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René Guénon zeigte die Gottvergessenheit des Westens

Kaum ein europäischer Denker hat die metaphysische Obdachlosigkeit scharfsinniger analysiert als René Guénon.
Sufitanz
Foto: Jamal Nasrallah (EPA) | Im Sufismus scheint der Philosoph und Autor René Guénon gefunden zu haben, was ihm die abendländische Moderne nicht mehr bieten konnte: spirituelle Metaphysik.

Guénon prangert den religiösen Analphabetismus der Moderne an. Die Orientierung an materiellen Gütern habe die Menschen blind gemacht für spirituelle Größen. Auf dem Gebiet des Wissens verstehen sie nur noch „Dinge, die sich messen, zählen und wiegen lassen“. Was unsichtbar sei, existiere für sie nicht. Sie klebten an der Materie, wofür sie aber den Preis einer „unfruchtbaren Hektik“ und „wahnwitzigen Geschwindigkeit“ ihres Lebens zu zahlen hätten. Fixiert auf künstlich geschaffene Bedürfnisse, eilten sie von einer Begierde zur nächsten, ohne je einen ruhigen Punkt zu finden.

Diese visionären Töne stammen aus einem Buch, dessen französisches Original bereits im Jahre 1927 erschien. 1950 kam dann unter dem Titel „Die Krisis der Neuzeit“ im Haus des legendären katholischen Verlegers und Buchgestalters Jakob Hegner eine erste deutsche Übersetzung des Werks heraus. Diese Übersetzung war jedoch aufgrund ihrer Schwerfälligkeit und veralteten Sprache kaum noch zu genießen, so dass der Verlag Matthes & Seitz Berlin gut daran tat, mit Ulrich Kunzmann einen verdienten Übersetzer zu beauftragen, das ebenso knifflige wie elegante Französisch des blitzgescheiten Denkers in ein zeitgemäßes Deutsch zu übertragen.

Die Weitergabe des Ursprungswissens vollzieht sich indes nicht ohne Verluste.
Wie eine stille Post verändert sich die anfängliche Botschaft nach und nach,
bis an einem bestimmten Punkt kaum noch etwas von ihr übrig ist

Die unter dem Titel „Die Krise der modernen Welt“ erschienene Neuübersetzung des Werks enthält ein instruktives Nachwort des britischen Historikers Mark J. Sedgwick, einem der wichtigsten Kenner der traditionalistischen Philosophie, als deren Begründer René Guénon gelten darf. Mark Sedgwick hat im Jahr 2004 ein Buch über den weitverzweigten Einfluss der traditionalistischen Schule im 20. und 21. Jahrhundert veröffentlicht. Darin richtet er sein Augenmerk vornehmlich auf die Bewunderer Guénons, allen voran den Schweizer Denker Frithjof Schuon.

Warum der eingefleischte Reaktionär Guénon bei modernistisch gestimmten Zeitgenossen wie André Breton oder Antonin Artaud Resonanzen auslöste, vermag Sedgwick nicht zu erklären. Dennoch bietet sein fesselnd geschriebenes Buch, das im Vorjahr unter dem Titel „Gegen die moderne Welt. Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts“ erstmals in deutscher Sprache erschien, eine hervorragende Begleitlektüre, wenn man Guénons Philosophie und Kulturkritik tiefer durchdringen will.

Was kulturell untergeht, ist philosophisch nicht wieder herzustellen

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Guénon, dem Carl Schmitt in den 1940er Jahren den Ehrentitel des „interessantesten Menschen unter den heutigen Lebenden“ verlieh, schuf seine historisch enorm weitgespannte und mit einem erstaunlichen Wahrheitsanspruch auftretende Lehre aus dem Geist der Philosophia perennis, der ewigen Philosophie. Dieses im Zeitalter der Renaissance aufkommende Denken besagt, dass es so etwas wie eine fortdauernde, über geschichtliche Klüfte hinwegschwebende Wahrheit gibt. Sie mag ihre Form ändern, aber ansonsten bleibt sie von zeitlichen Wandlungen unberührt. So wie es den „einen Ursprung aller Dinge gibt“, argumentierte der italienische Bischof Agostino Steuco im 16. Jahrhundert, so gibt es auch „eine und dieselbe Wissenschaft von diesem Ursprung“. Die Weitergabe des Ursprungswissens vollzieht sich indes nicht ohne Verluste. Wie eine stille Post verändert sich die anfängliche Botschaft nach und nach, bis an einem bestimmten Punkt kaum noch etwas von ihr übrig ist. Guénon war mit einem Begriff aus der hinduistischen Kosmosgonie der Überzeugung, dass wir am Ende des Kali-Yuga stehen, des dunklen Zeitalters, das sich maximal vom Ursprung entfernt hat. Als ein untrügliches Zeichen hierfür betrachtete er die Tatsache, dass alles, was es gibt, auch Gott, menschlichen Maßstäben unterworfen wird.

Intellektuelle Heilmittel gegen diese Tendenzen sah er nicht. Er hielt es für eine ausgemachte Illusion, kulturelle Güter einer untergegangenen Epoche mit philosophischen Mitteln erneuern zu können. Nur dort, wo noch authentische Reste ursprünglichen Wissens vorhanden seien, könne das spirituelle Erbe der Menschheit, das sich in den Religionen der Welt auf vielfältige Weise manifestiert habe, zum Leben erweckt werden. Dies geschehe durch Einweihung in eine Lehre, die ein Meister, der selbst eingeweiht worden sei, an seinen Schüler weitergebe. Tradition ist demnach keine Kopfgeburt, kein denkerischer Akt. Der lebendige Geist der Tradition weht dort, wo im Medium jahrtausendealter Überlieferung eine Verbindung zum spirituellen Ursprung der Menschheit fortbesteht.

Hoffnungen in die katholische Kirche

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Als Guénon im Jahre 1927 „La crise du monde moderne“ veröffentlichte, war er Anfang 40 und konnte bereits auf eine lange Suche nach lebendigen Orten spiritueller Überlieferung zurückblicken. Seine jungen Jahre hatte der abenteuerlustige Spross eines katholischen Elternhauses aus der französischen Provinzstadt Blois in okkulten Kreisen verbracht. Seine hohe Intelligenz, sein breit gefächertes Wissen und sein Gespür für wahrhaft verwurzelte Religiosität bewahrten ihn aber davor, den gnostischen und freimaurerischen Milieus seiner spirituellen Anfänge verhaftet zu bleiben. So stark der risikobereite Grenzgänger, der sich zum Konsum von Opium hinreißen ließ, den epiphanen Kick ersehnte, so klar stand ihm die Tatsache vor Augen, dass in halbseidenen Zirkeln wie dem um die betrügerische Esoterikerin Helena Blavatsky keine Gottesnähe zu erwarten war.

In der westlichen Hemisphäre traute Guénon einzig und allein der katholischen Kirche die Wiederannäherung an den traditionellen Geist zu. Nachdem er von den Okkultisten Abschied genommen hatte, beheimatete er sich deshalb im katholischen Milieu von Paris. Seine publizistische Abrechnung mit der Theosophie löste in katholischen Kreisen viel Zuspruch aus. Der bekannte Philosoph Jacques Maritain, der mit Guénon befreundet war, hielt große Stücke auf den esoterischen Schriftsteller. Als er erkennen musste, wie stark Guénon von gnostischen Neigungen beherrscht blieb, entfernte er sich aber zusehends von ihm.

Letzten Ende wurde er islamischer Sufi

Im Jahre 1930 wanderte Guénon nach Kairo aus, heiratete eine Ägypterin, mit der er mehrere Kinder hatte, und wurde ein islamischer Sufi. Das Interesse an der islamischen Mystik hatte sich bei ihm schon früh abgezeichnet. Es gründete nicht so sehr im Glaubensinhalt des Islam als in der lebendigen Tradition des Sufismus, in dem der wahrheitstrunkene Schriftsteller den Kultus der Initiation, und das hieß aus seiner Sicht: die Weitergabe des spirituellen Ursprungswissens der Menschheit, selbst erleben konnte.

In seinem kulturkritischen Hauptwerk findet sich beides: seine Liebe zum Orient, von dem der Westen in spiritueller Hinsicht zu lernen habe, und seine Verehrung der katholischen Kirche, der er bei der geistlichen Wiederaufrichtung des Westens eine Exklusivrolle zuweist. Aber nur unter der Voraussetzung, dass die katholische Kirche den Kurs der Anpassung an die moderne Lebenswelt nicht fortsetzt, sondern korrigiert und sich auf ihre geistliche Mitte besinnt.


– René Guénon: Die Krise der modernen Welt. Mit einem Nachwort von Mark J. Sedgwick.
Matthes & Seitz, Berlin 2020, 190 Seiten, ISBN-13: 978-395757-851-8, EUR 24,–

– Mark J. Sedgwick: Gegen die moderne Welt. Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Matthes & Seitz, Berlin 2019, 549 Seiten, ISBN-13: 978-395757-520-3, EUR 38,–

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