Der Surrealismus war nie nur Stil, sondern eine Haltung: das Sichtbarmachen des Unsichtbaren, die Suche nach den Träumen im Innern der Welt. Jetzt bringt die von Lisa Hackmann, Maike Steinkamp und Sven Haase kuratierte Berliner Ausstellung „Max Ernst bis Dorothea Tanning: Netzwerke des Surrealismus“ eine andere, oft übersehene Dimension ans Licht – jene der Kunstwerke selbst, ihrer Wege und Biografien. Forschung wird hier zur ästhetischen Erzählung über Verlust, Flucht, Rettung und Erinnerung.

Dies verdeutlicht Lisa Hackmann, Mitarbeiterin des Zentralarchivs der Staatlichen Museen zu Berlin, unter anderem an André Massons „Der Jäger“ (1927), einem fragilen Kunstwerk aus Sand und Öl auf Leinwand, das lediglich 41 x 16,6 cm misst – ein Hochformat, das an prähistorische Höhenmalerei erinnert. Hackmann hat die Reise des Werkes rekonstruiert: Es entstand an der Mittelmeerküste bei Toulon, wurde in den 1930er-Jahren vom jüdischen Sammler Alphonse Kann erworben, 1940 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und zur Vernichtung bestimmt. Das Werk überstand den Krieg, wurde 1947 restituiert und gelangte über Genf, New York, Rom und Chicago schließlich 1982 in die Sammlung von Ulla und Heiner Pietzsch. „Wenn man bedenkt, wie viele Tausend Kilometer dieses zerbrechliche Sandbild durch Kriegs- und Friedenszeiten gereist ist – meist ohne sicheren Schutz –, grenzt es an ein Wunder, dass es überlebt hat“, sagt Hackmann.
Forschung als Teil des künstlerischen Narrativs
Diese ungewöhnlichen Objektbiografien sind das Herz der Ausstellung. „Eine Besonderheit der Provenienzforschung in Deutschland ist, dass der Surrealismus im Mittelpunkt steht“, erklärt Kuratorin Maike Steinkamp, die für die Kunst des 20. Jahrhunderts und die Sammlung Pietzsch an der Neuen Nationalgalerie verantwortlich ist. Jedes Werk erzählt eine doppelte Geschichte: die seiner künstlerischen Entstehung und die seiner materiellen Existenz.
Im Rückblick auf André Bretons „Erstes Manifest des Surrealismus“ von 1924, das das Unbewusste zur schöpferischen Macht erklärte, widmet sich die Ausstellung der Frage, wie Surrealismus und Schicksal sich durchdrangen. „Provenienzforschung wird ausgestellt“, fasst Marion Ackermann, Präsidentin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das Konzept zusammen. In Anlehnung an Bretons Idee eines „universellen Gedächtnisses“ verstehe man Forschung als Teil des künstlerischen Narrativs. Der Surrealismus, sagt Ackermann bei der Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung, habe im „Büro der Träume“ schon früh begonnen, „sich selbst zu archivieren“.

Akten, Etiketten und Zollstempel werden hier zu ästhetischen Elementen. Was sonst verborgen bleibt – Inventarnummern, Sammlervermerke, Klebespuren – wird in der Ausstellung sichtbar und begreifbar. „Die Rückseiten der Gemälde sind oft genauso beredt wie ihre Vorderseiten“, erklärt Hackmann. „Man erkennt, wann, von wem und unter welchen Umständen ein Werk besessen wurde.“
Ein Netz aus Freundschaften und Zufällen
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden 96 Werke untersucht, die zwischen 1933 und 1945 entstanden. Bei 42 von ihnen blieben Lücken, doch keines der gezeigten Wege weist Spuren verfolgungsbedingter Entziehung auf. Petra Winter, Direktorin des Zentralarchivs, beschreibt den „politischen Auftrag“ so: „Es geht um die Unbedenklichkeit der ausgestellten Kunstwerke.“ Die Forschung veranschaulicht, wie eng künstlerische Netzwerke und politische Wirklichkeit miteinander verflochten waren. Die Surrealisten bildeten ein weitreichendes Netz aus Freundschaften und Zufällen, aus Ateliergemeinschaften und Exilbeziehungen. Mit der Besetzung Frankreichs 1940 löste sich dieses Netz auf: viele mussten fliehen, andere tauchten unter; einige konnten ihre Werke retten, andere verloren alles an Beschlagnahmungen oder Zwangsverkäufe. Die Provenienzforschung macht diese Verflechtungen sichtbar.

Die Ausstellung im unteren Sammlungsgeschoss der Neuen Nationalgalerie präsentiert 26 ausgewählte Werke aus der Sammlung von Ulla und Heiner Pietzsch, die seit 2010 als Dauerleihgabe in der Nationalgalerie verwahrt wird. Dort sind etwa Max Ernsts „Düsterer Wald und Vogel“ (1927), André Massons „Massaker“ (1931/32), Joan Mirós „Der Pfeil durchstößt den Rauch“ (1926) oder Dorothea Tannings „Spannung“ (1942) zu sehen. Auch Werke von Salvador Dalí, Leonora Carrington, Pierre Roy, Victor Brauner, Wolfgang Paalen, Roberto Matta, Jacques Lipchitz und Leonor Fini reihen sich ein.
Ulla und Heiner Pietzsch sammelten seit den 1970er Jahren auf internationalen Kunstmärkten Werke des Surrealismus und des Abstrakten Expressionismus. Ihre Schenkung an das Land Berlin war sowohl Geschenk als auch Verpflichtung: die Herkunft all dieser Werke kritisch zu prüfen. Das durch das Land geförderte Projekt von 2023 bis 2025 ging dieser Aufgabe systematisch nach – Werk für Werk, von der Entstehung über Zwischenhändler bis zum heutigen Standort. Ziel war es, mögliche NS-verfolgungsbedingte Entziehungen zu erkennen, aber auch die Biografien der Werke zu rekonstruieren – mitsamt der Schicksale ihrer Besitzer.

Eine Spurensuche durch die Zeit
Die Ausstellung zeichnet in drei Sektionen exemplarisch die ereignisreichen Wege der Gemälde und Skulpturen nach, die von Paris über Brüssel und Marseille über die Jahre des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs bis ins amerikanische Exil, meistens nach Mexiko oder in die Vereinigten Staaten, führen. Die Recherchen des Zentralarchivs zeigen, dass selbst vermeintlich unscheinbare Objekte – etwa ein Zollstempel oder ein handschriftlicher Preisvermerk – wertvolle Hinweise auf den individuellen Weg eines Kunstwerkes liefern. Auf Nachfrage der „Tagespost“ erklärt Lisa Hackmann, dass in diesem Zusammenhang die Rahmung eine Rolle spielt, aber häufig gar nicht aufgeklärt werden kann, ob der jeweilige Rahmen original ist oder das Werk eingerollt transportiert und zu einem späteren Zeitpunkt eingerahmt wurde.
In der Ausstellung wird deutlich, was Provenienzforschung leistet: Sie stellt die Frage, wie Gegenstände gesammelt, erworben und mitunter angeeignet wurden und auf welchen oft verschlungenen Pfaden sie ins Museum gelangten. Sie beschäftigt sich mit den Kontexten von Besitz- und Eigentumswechseln von der Entstehung eines Objekts bis hin zu seiner Aufnahme in die Sammlungen. Sie folgt den Spuren, die auf den Rückseiten der Gemälde eingeschrieben sind: alte Zollstempel, Nummern, handschriftliche Vermerke. So erzählen sie manchmal von Rettung, manchmal jedoch von Verlust.
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