Je weiter man sich von den niederrheinischen Gefilden entfernt, desto weniger ist die Stadt Wesel ein Begriff. Am ehesten wird sie noch mit dem in verschiedenen Varianten existenten, mäßig guten Witz verbunden: Frage an das Echo: „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“ – „Esel“. Zumindest hat man in Wesel Sinn für Selbstironie. Allgegenwärtig in der Stadt sind bunt bemalte, zum Teil als Werbeträger fungierende Eselsfiguren. Einst ein bedeutender Handelsplatz, Mitglied der Hanse und später vom brandenburgisch-preußischen Landesherrn Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten, als Festungsstadt ausgebaut, wurde Wesel im Februar 1945 durch alliierte Angriffe nahezu vollständig zerstört. Mag der als pragmatisch zu bezeichnende Neuaufbau in der Nachkriegszeit ein Kraftakt gewesen sein – der Stadt heute etwas abzugewinnen, fällt dem Besucher schwer.
Entsprechend konzentriert richten sich die Blicke auf eine Einrichtung, die als Anziehungspunkt mit Ausstrahlung weit über Wesel hinaus wirken will: Auf das Niederrheinmuseum, das sich in der Trägerschaft des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) befindet. Untergebracht ist es im ehemaligen Körnermagazin der Zitadelle der Ende des 19. Jahrhunderts geschleiften Festung. Ursprünglich war das Museum einer der beiden Teile des „Preußen-Museum Nordrhein-Westfalen“. Während der Standort Minden noch mit entsprechender Aussichtung existent ist, wurde die Einrichtung in Wesel vom LVR übernommen, neu konzipiert als Niederrheinmuseum, für 5,2 Millionen Euro umgebaut und nun nach zweimaliger Verschiebung des Termins im Juli 2025 eröffnet. Die sich über zwei Etagen erstreckende Dauerausstellung, die auf knapp 1400 qm etwa 470 Exponate, reichlich Schrifttafeln und 42 „Medienstationen“ zeigt, will dem Besucher 800 Jahre Kulturgeschichte des Niederrheins nahebringen. Die Region, das Übernationale steht im Vordergrund, wohl auch in Abgrenzung zum durch den LVR geschleiften „Preußen-Museum Wesel“. Demonstrativ sichtbar ist die Grenzüberwindung auch in der durchgehend zweisprachigen Beschriftung, Deutsch und Niederländisch.
Den Niederrhein stets in den Fokus rückend, firmiert die Dauerausstellung unter dem Grundmotto „Leben mit dem Wasser“. Unter diesem Titel ist auch ein ansprechendes, sehr informatives Begleitbuch erschienen, ideal für die nach-, besser noch vorbereitende Lektüre einer Besichtigung. Den peinlichen Kotau vor zeitgeistiger Sprachdümmlichkeit – so ist penetrant von „Besuchenden“ die Rede, auch „Organisierende“ oder „Künstler*innen“ kommen vor – sollte man großzügig überlesen. Großzügig zu sein gilt es ebenso, wenn sich der Verdacht aufdrängt, das Begleitbuch versammle derzeit gewünschte politische Stichworte, um diese über die Kulturgeschichte des Niederrheins allgemein positiv zu konnotieren. Die Betonung von „Diversität“ und „Vielfalt“ oder Sätze wie „Die Menschen am Niederrhein sind ein buntes Gemisch verschiedener Kulturen und Traditionen“ fallen jedem auf, der die Debatten unserer Tage verfolgt.
Rhein, Wirtschaft, Warenstrom
Der erste Teil des neu konzipierten Niederrheinmuseums gibt sich wohltuend konventionell. Die untere Etage durchzieht, als ausstellungsarchitektonisches Element, ein stilisierter Rheinverlauf. Chronologisch ausgerichtet, beginnend mit der Entstehung der Städte im späten Mittelalter bis hin zur vernetzten Weltwirtschaft der Gegenwart, wird die Geschichte der Region dargeboten. Selbstredend exemplarisch, eine umfassende Darstellung kann ein Museum nicht leisten. Drei große Zäsuren, allsamt kriegerische Konflikte, dienen als Wegmarken. Da wäre zum einen der Achtzigjährige Krieg (1568-1648) zwischen Spanien und den Niederlanden, der das niederrheinische Gebiet heftig in Mitleidenschaft zog, dann die Napoleonischen Eroberungen mit der französischen Besetzung des linksrheinischen Gebietes und die sich anschließenden Befreiungskriege sowie schließlich der Zweite Weltkrieg mit den verbissenen Kämpfen und nachhaltigen Zerstörungen.

Der Rhein, die Wirtschaft, der Warenstrom werden in der Ausstellung sichtbar, Schiffsmodelle der jeweiligen Zeit dienen der Illustration. Wer bislang nicht wusste, was es mit der Börtschifffahrt auf sich hat, kann es hier oder im Begleitbuch lernen. Für die Kaufleute war es ein Ärgernis, dass die Schiffe erst ablegten, wenn sie voll beladen waren. Bis dahin konnten Waren verdorben sein oder der Zielort wurde viel zu spät erreicht. Insofern war der entstehende Verkehr nach regelmäßigem Fahrplan, am Niederrhein und in den Niederlanden Bört genannt, ein erheblicher Fortschritt.
Immer wieder wird der Einzelne hervorgehoben, der Entwicklungen angestoßen, getragen oder repräsentiert hat. So etwa der Humanist Georg Weyer, der sich im 16. Jahrhundert gegen die Hexenverfolgung wandte, der Bußprediger Geert Groote, der weit vor Martin Luther reformatorische Ideen durchzusetzen versuchte, Andreas Vesalius, einer der bedeutendsten Anatomen, dessen Familie aus Wesel stammte oder der schließlich in Duisburg verstorbene Geograph Gerhard Mercator.
Ein königlicher Strumpf
Die Grenzlinie entstand 1648, als die Niederlande mit dem Frieden von Münster, zeitlich parallel zum Westfälischen Frieden, unabhängig wurden. Das Niederrheingebiet kam schließlich zu Preußen. Die Festung Wesel wurde zwar auf Initiative des brandenburgisch-preußischen Kurfürsten errichtet, ausgeführt wurde sie allerdings von hugenottischen Baumeistern, Protestanten, vertrieben aus dem Frankreich Ludwigs XIV. Ein besonderes Kuriosum ist ein Strumpf des Preußenkönigs Friedrich II., den dieser als Muster an die Krefelder Manufaktur – Krefeld verfügte über ein blühendes Textilgewerbe – übersandt hatte, irgendwann Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Museumsbesucher sieht die bräunlich-verwitterte Socke des großen Herrschers und ist dankbar, dass sie ob etwaiger olfaktorischer Wirksamkeit dicht abgeschlossen unter Glas liegt.

Mit den antinapoleonischen Befreiungskriegen war Wesel auch unmittelbar verbunden. In der Festung wurden die Offiziere festgesetzt, die unter dem Kommando des Majors Ferdinand von Schill 1809 eine frühe Erhebung gegen die französische Fremdherrschaft gewagt hatten. Thematisiert wird dies in der Ausstellung, im Zusammenhang mit dem französischen Einfluss dieser Zeit auf das Rheinland insgesamt. Die sogenannte Schillkasematte – Schill selbst war in Stralsund gefallen, inhaftiert waren hier nur seine Offiziere – kann in der Zitadelle besichtigt werden. Ebenso gibt es einen Gedenkstein für die schließlich abseits der Festung hingerichteten elf Schillschen Offiziere. Beide Orte gehören nicht in die Zuständigkeit des LVR-Museums und sind nicht sonderlich gut gepflegt, atmen für den Aufnahmebereiten allerdings mehr Geschichte aus als jede noch so informative „Medienstation“.
Dialekte und Konrad Duden
Nach dem ersten, chronologischen Teil präsentiert sich die zweite Etage der LVR-Neukonzeption thematisch. Über Bräuche wird hier informiert, wobei unklar bleibt, was an Karneval und Schützenvereinen spezifisch niederrheinisch sein soll. Propagiert wird „Europa“, die 1815 mit dem Wiener Kongress geschaffene „Zentralkommission für die Rheinschifffart“ als älteste übernationale, bis heute existente übernationale Einrichtung der Welt, ist tatsächlich hervorhebenswert. Sprachwissenschaftliche Erkenntnisse wie der „Rheinische Fächer“, der die Dialektlandschaft des Rheinlandes gliedert, werden erläutert und Konrad Duden wird thematisiert, der in einem heute zu Wesel gehörigen Ort zur Welt kam. Eine Reihe von niederrheinischen Biographien auf großen Schrifttafeln – von der selbstbewussten Katharina von Kleve, die durch Heirat Herzogin von Geldern wurde, bis zum Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch – beschließt diesen zweiten, textintensiven und in seiner Schwerpunktsetzung nicht so ganz nachvollziehbaren Dauerausstellungsteil.
Wem 800 Jahre Kulturgeschichte noch nicht genug sind, der mag sich noch in 400 Millionen Jahre Erdgeschichte der Region vertiefen. Sprichwörtlich, denn das neue Infozentrum des „GeoParks Ruhrgebiet e.V.“ befindet sich im Untergeschoß des ehemaligen Körnermagazins. Die „Vogelheimer Klinge“, als älteste Spur eines Menschen im Ruhrgebiet oder der Milchzahn eines Wollhaarmammuts gibt es jedoch nur als Replik zu bestaunen. Der Besucher bleibt, wie auch nach der Besichtigung der anderen Teile des neuen LVR-Museums mit einem ambivalenten Eindruck zurück.
Informationen: https://niederrheinmuseum-wesel.lvr.de
Begleitbuch: Leben mit dem Wasser. Das LVR-Niederrheinmuseum Wesel, hrsg v. Landschaftsverband Rheinland, Oppenheim am Rhein: Nünnerich-Asmus Verlag 2025, 224 Seiten, 19,00 Euro
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