Eine Munitionskiste, darauf der skelettierte Stamm eines Weihnachtsbaums. Verhindert der Fichtenstamm das Öffnen der Kiste mit ihrem todbringenden Inhalt? Wirkt er in seiner abgestorbenen natürlichen Nacktheit nicht selbst wie eine Waffe? Oder ist er ein Friedenssymbol, Zeichen der Hoffnung? Die beiden Objekte wurden 1971 von Joseph Beuys (1921 bis 1986) in ihrer eindeutig mehrdeutigen Symbolik zum Werk „Ohne Titel“ gruppiert; ergänzt um das kurz nach den grauenhaften Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs entstandene „Kreuz mit Sonne“ und die rätselhafte „Berglampe“ (1953). Heute hat die Installation angesichts der von Kriegs- und Krisenszenarien geprägten Gegenwart nichts von ihrer Ambivalenz und brennenden Aktualität zwischen Unsicherheit und Gefahr einerseits sowie Hoffnung und Zuversicht andererseits eingebüßt.
„Welche Rolle kommt Kunst in Zeiten gesellschaftlicher Krisen zu?“, fragt der bald scheidende Museumschef Stefan Kraus und blickt von der Installation hinüber auf den Radio-Volksempfänger von 1933. War es zu Zeiten des Nationalsozialismus dieses im Volksmund auch als „Goebbels‘ Schnauze“ bezeichnete Gerät, das als Sinnbild einer allgemeinen Standardisierung eine normative Wirkung entfaltete, können es heute beispielsweise Mobiltelefone und andere vermeintlich soziale Kommunikationsmittel sein, die die Freiheit des Denkens und die Kreativität jedes einzelnen Individuums beeinflussen, wenn nicht gar suggestiv in die gewünschte Richtung vereinheitlichen. „Wir leben in einer Zeit, die uns wenig Spielraum lässt“, stellen der Direktor von „Kolumba“, dem Kunstmuseum des Erzbistums Köln, und sein dreiköpfiges Kuratorenteam fest. Vieles sei aus den Fugen geraten, verlässlich geglaubte Fundamente hätten Risse, Dinge ihre Maßstäblichkeit verloren.
Der Zufall als Kurator
In diesem Sinne präsentiert die neue Jahresausstellung mit Objekten ausschließlich aus dem eigenen Sammlungsbestand unter dem Titel „Make the secrets productive! Kunst in Zeiten der Unvernunft“ zahlreiche Installationen und Fotografien, Skulpturen, Gemälde, Objekte des Kunsthandwerks sowie weiterer künstlerischer Gegenstände, die sich allesamt mit Brüchen und Umbrüchen in der Gesellschaft beschäftigen. Dabei werden die unterschiedlichsten, zeitlich teilweise Jahrhunderte auseinanderliegenden Objekte in Beziehung gesetzt, gehen einen Dialog – vielleicht gar eine Konfrontation – ein und erzeugen mitunter raumgreifend ergreifende Schattierungen und Kontraste.
In der Vorbereitung fungierte der Zufall als Kurator. Aufgrund des Eindringens von Feuchtigkeit unter dem Dach musste die berühmte „Muttergottes mit dem Veilchen“ von Stefan Lochner (Köln, Mitte 15. Jahrhundert) von ihrem angestammten Platz in einen anderen Raum umziehen. Das so farbenprächtige, ausdrucksstarke Gemälde befindet sich nun in Nachbarschaft des gleichfalls farbenfrohen Blumenaquarells von August Macke, als eines der bedeutendsten Werke des rheinischen Expressionismus entstanden auf der Tunis-Reise.
Das Team von „Kolumba“ hat ein Wort von Joseph Beuys an den Beginn der neuen Jahresausstellung gestellt: „Jeder Mensch ist ein Künstler – make the secrets productive“ schrieb er 1977 auf eine Holztür, die programmatisch im Treppenaufgang hängt. Die mutmachende Aufforderung dahinter: Ein jeder vermag seine mehr oder minder verborgene, geheimnisvolle Kreativität auszudrücken.
Ein Beispiel hierfür ist die großformatige Arbeit „Brenda, Lee and the others“ von Monika Bartholomé (geb. 1950). Die Künstlerin, die auch für die Illustrationen im „Gotteslob“ verantwortlich zeichnete, hat auf insgesamt 70 gleich großen Zeichnungen mit Tusche und Tempera auf Papier die Aspekte gebannt, die ihr kreativ-produktives Schaffen als Künstlerin bestimmen. Die einzelnen Werke wurden dann wirkungsvoll zu einem Gesamtbild zusammengefügt, in dem Bartholomé die „Geheimnisse ihrer Wahrnehmung offenbart“, wie es im Begleitheft zur Ausstellung heißt. Eine wunderbare Wirkung offenbart auch die „Fliegende Lokomotive von Victoria Bell (geb. 1942). Die riesige bildhauerische Arbeit wirkt schwer und „fliegt“ doch scheinbar mit Leichtigkeit durch Raum und Zeit zwischen Erde und Himmel und berührt überirdische Sphären. Es ist ein weit verzweigter Kosmos in der Jahresausstellung von „Kolumba“ mit einem dichten Geflecht von unterschiedlichen Pfaden, die die Geheimnisse der menschlichen und göttlichen Existenz berühren.
Mehr als reine Vernunft
Gemeinsames wird ergreifend erlebbar im Raum 21. In Form einer lebensgroßen Holzskulptur (15. Jahrhundert) blickt der gegeißelte Gottessohn auf ein wie ein zeitgenössisches Triptychon anmutendes Altarbild mit der gefiederten Schlange (Plumed Serpent, 1969) von Paul Thek (1933 bis 1988). Als „Ecce homo“ steht der von Folter gezeichnete Christus mitten im Raum und, noch wichtiger, inmitten der Besucher. Einen ähnlich spannenden Dialog in dieser Richtung erleben die Besucher bereits vorher im Raum 8. Ein zutiefst von Leiden und Folter gezeichneter „Christus in der Rast“ (15. Jahrhundert) in Erwartung seiner Kreuzigung zeigt die ganze Verletzlichkeit, ja Fragilität der menschlichen Existenz. Diese auf einem Sockel thronende Holzskulptur aus Lindenholz korrespondiert mit der 20-teiligen Großfoto-Serie „Transzendentaler Konstruktivismus“ (1992/94) von Anna und Bernhard Blume.
Das Künstlerpaar befragt, teilweise mit durchaus ironischem, aber keinesfalls verletzendem oder gotteslästerlichem Hintergrund mit dieser sehr subjektiv gestalteten Bildgeschichte die verschiedenen Verhältnisse, Wege und Irrwege der künstlerischen und menschlichen Existenz. Am Ende nimmt der Künstler sein eigenes Kreuz auf sich. Manch einem mag das wider die Vernunft erscheinen. Daher sei an dieser Stelle an die unscheinbare Fotografie (1981) von Bernhard Johannes Blume (1937 bis 2011) am Ende des Treppenaufgangs erinnert. In Schreibschrift steht darauf wie eine prägnant zusammengefasste Einführung auf das, was nun in den folgenden Ausstellungsräumen präsentiert wird: „Die reine Vernunft ist als reine Vernunft ungenießbar.“ Das Kunstmuseum des Erzbistums Köln lässt sich darauf ein.
Seelsorge mit Kunst
„Die Kirche kann stolz drauf sein, Kunst auf zeitgenössische Weise zu zeigen und dabei ästhetische Bildung mit Seelsorge im spirituellen Sinne zu verbinden“, unterstreicht Kraus. In wenigen Monaten verlässt der Kunsthistoriker nach 34 Jahren, davon 17 als Direktor, altersbedingt das Haus, das es ohne das Erzbistum Köln als Träger gar nicht geben würde. Ob das so weitergeht? Der Direktor nutzte die Ausstellungseröffnung für ein leidenschaftliches Plädoyer angesichts dessen, dass „wir Kunstschaffende mit dem Rücken zur Wand stehen“. Durch die Kürzungen im Kulturbereich, beispielsweise etwa 30 Milliarden Euro im Bundeshaushalt, würden Nutzen und systemrelevante Dimension der Kunst, ihre sinnstiftende Identität in einer funktionierenden Demokratie, bedroht. Das gilt auch für die Kultureinrichtungen der Katholischen Kirche, dem nach Bund und Kommunen drittgrößten Träger kultureller Einrichtungen. Das Erzbistum Köln wird das Budget für sein Kunstmuseum in den kommenden Jahren um 16 Prozent zurückfahren. Das Haus ist daher noch stärker auf die Einwerbung von Zuwendungen von außen angewiesen – im Mittel waren es fast 600.000 Euro jährlich.
Dennoch blickt Kraus zuversichtlich nach vorne und geht davon aus, dass Auftrag und Botschaft des kirchlichen Museums in Kontinuität fortgeführt werden. „Kolumba betreibt Seelsorge mit den Mitteln des Mediums Kunst. Es geht uns um eine Berührung des einzelnen Menschen, um ein Angebot und einen Dienst am Menschen in der Nachfolge Christi.“
Beim Ausgang fällt der Blick auf einen maroden aufgebrochenen leeren Tresor. „Sicherheitsschrank“ nennt der Künstler Felix Droese (geb. 1950) das Objekt. Steht das Objekt für den befreienden Ausbruch zu den unendlichen Spielräumen und Horizonten, die Kunst und Religion gleichermaßen eröffnen?
Bis 14. August 2026, Kolumbastraße 4, Köln. Mittwochs bis montags 12 bis 17 Uhr.
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