Wüstenerfahrung

Es ist ein wüstes Land der Sinnleere

Sinnbild für die Gottesferne: Vor 100 Jahren erschien „The Waste Land“ von T. S. Eliot.
St. Mary Woolnoth in London
Foto: Hartmut Sommer | In St. Mary Woolnoth in London fand Eliot den Weg aus der inneren Wüste zum Glauben.

Für Thomas Stearns Eliot war die Londoner City mit ihrem Bankenviertel ab 1917 für acht Jahre Ort des Broterwerbs. Als Angestellter der Lloyds Bank saß er von neun bis siebzehn Uhr für ein bescheidenes Salär über Tabellen und Formulare gebeugt. Lange hatte er auch seinen Arbeitsplatz in einem Kellerbüro der Royal Exchange am Cornhill 17, über sich ein dürftiges Fenster zum Gehsteig hin, auf dem dumpf die Schritte der Passanten hallten. Nur früh morgens oder nachts kam er dazu, sich seinen literarischen Arbeiten zu widmen. Unwirklich erschien ihm sein Leben, unwirklich das Leben überhaupt – ein ödes, wüstes Land.

„The Waste Land“ lautet denn auch der Titel des Gedichtes, mit dem er 1922 den Durchbruch schaffte. „Ich zeig dir die Angst in einer Handvoll Staub“, heißt es darin. Alles war flüchtig. Was hatte überhaupt Sinn? Die Menschen schienen ihm in oberflächlicher Geschäftigkeit befangen zu sein, hohl und leer, am Wesentlichen vorbeilebend. Die Londoner City gab ihm ein Bild für das öde Land der Sinnleere: „Unwirkliche Stadt,/ Unter dem braunen Nebel eines Wintermorgens/ Glitt eine Menschenmenge über London Bridge, so viele,/ Das dacht? ich nicht, dass derart viele schon verblichen wären./ Gelegentliche kleine Seufzer wurden ausgehaucht,/ Und jedermann sah starr vor seine Füße.“

Eigentlich war eine akademische Karriere geplant

Als amerikanischer Gaststudent hatte Eliot 1914 nur ein Studienjahr in Oxford verbringen wollen, um seine philosophische Dissertation fertigzustellen. Die überstürzte Heirat mit der Engländerin Vivien Haigh-Wood im Juni 1915 und vor allem sein wachsender Widerwille gegen eine akademische Karriere veranlassten ihn, in England zu bleiben. Hier schienen die Aussichten, sich als Dichter durchsetzen zu können, bedeutend besser zu sein als in den Vereinigten Staaten. Zum Philosophiestudium hatte ihn die vage Suche nach Sinn gezogen. Die Philosophie, wie Eliot sie studiert hatte, bestärkte ihn auf seinem Weg zur dichterischen Berufung. Bei Francis Herbert Bradley, dem führenden Vertreter des englischen Neuidealismus, fand er sowohl strengste Begriffsarbeit als auch den Überstieg zur unmittelbaren Erfahrung des Absoluten. Auf einer höheren Stufe des Erlebens können wir danach die unmittelbare „Erfahrung eines Ganzen“ zurückgewinnen, in dem „Wille, Gedanke und Gefühl wiederum eins sein mögen“. Damit sah sich Eliot in seinem eigenen Streben bestätigt.

Er wählte daher Bradleys Philosophie als Thema für seine Doktorarbeit, an der er ab 1913 schrieb. Noch während er daran arbeitete, fiel aber die endgültige Entscheidung gegen eine Hochschullaufbahn. Nach dem Willen seiner in Amerika einflussreichen Familie hätte Eliot eine führende Stellung in der dortigen Gesellschaft einnehmen sollen. Eine Karriere als Philosophieprofessor wäre ihm nach seiner Rückkehr sicher gewesen. So aber musste er sich in London als Aushilfslehrer über Wasser halten. Seine Lebensumstände blieben lange prekär. Im März 1917 konnte er schließlich bei der Lloyds Bank als einfacher Sachbearbeiter unterschlüpfen. Aber auch erste literarische Erfolge stellten sich ein.

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Ergebnis einer bitteren Zeit

Eine Nervenkrise, ausgelöst durch die andauernden psychischen Probleme seiner Frau, die zunehmende Entfremdung von ihr und eigene gesundheitliche Probleme veranlassten Eliot im Oktober 1921 zu einem längeren Erholungsurlaub. Die ersten Wochen am Meer in Margate verbrachte er damit, sich seine Ängste in einem langen Gedicht von der Seele zu schreiben. „The Waste Land“ entstand, bittere Frucht einer für ihn bedrückenden Zeit.

Eliot hat Bezüge zur Dichtung, zu Mythen und Texten verschiedener historischer Epochen und Kulturen in das Gedicht hinein verwoben, denn das öde, wüste Land ist in seiner Sinnlosigkeit und Vergänglichkeit immer und zu aller Zeit. Die Welt ist von Verfall und Vernichtung bedroht. Eliot zitiert den alten englischen Kinderreim: „London Bridge is falling down, falling down.“ Aber die Bilder der Städte – des modernen London und der antiken Städte – durchdringen einander: „Was ist diese Stadt dort über den Bergen/ Bricht und baut sich und birst in der lila Luft/ Fallende Türme/ Jerusalem Athen Alexandria/ Wien London/ Unwirklich.“

Sein Ziel fand Eliot in der Stille einer Kirche

„The Waste Land“ entsprach dem Lebensgefühl einer Generation, die traumatisiert aus den Schützengräben des Ersten Weltkrieges zurückgekehrt war, entwurzelt durch die wirtschaftliche Not der Zeit und verunsichert durch die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüche. Es endet mit dem dreifachen Ruf „Shantih“ wie eine der Upanishaden. „,Der Friede, welcher höher ist als alle Vernunft‘, kann als Entsprechung dieses Wortes gelten“, erläutert Eliot selbst in seinen Anmerkungen zum Gedicht. Es ist der verzweifelte Ruf des im Horror der Zeit Versinkenden und Beschwörung des Rettenden zugleich.

Die asiatische Vorstellung von einem apersonalen Absoluten stand ihm zeitweise näher als die christliche. Aber auch die christliche Spiritualität zog ihn an. Zwei der Stadtkirchen werden in „The Waste Land“ an prominenter Stelle genannt: St. Magnus the Martyr und St. Mary Woolnoth. Eliot verweilte dort oft, wenn er bei Lloyds Mittagspause hatte, ohne noch recht zu wissen, was er suchte.

Vielleicht ahnte er angesichts der hier verkörperten stillen Andacht und Würde, dass sich sein unglückliches Leben um einen anderen Mittelpunkt sammeln und zur Einheit zusammenschließen könnte. St. Magnus the Martyr duckt sich heute unter der Fahrbahn der London Bridge, unsichtbar hinter den Bürogebäuden an der Lower Thames Street. Schmutzig-gelb und träge wiegt sich der Fluss zwischen den modernen Glasfronten am Ufer – ödes Land. Allein St. Mary Woolnoth ist noch unübersehbar an prominenter Stelle, wo beim Mansion House der Verkehr auf die King William Street abzweigt in Richtung London Bridge. Durch eine schwere Doppeltür tritt man ein in ihre dunkle Stille. Eliot, der lebenslang ängstlich und schreckhaft auf Geräusche reagierte, muss das als besonders wohltuend empfunden haben.

Durch die festen Mauern dringt vom Lärm auf der King William Street nur ein dumpfes Rauschen. Tack Tock, Tack Tock pocht leise das Räderwerk der alten Turmuhr, die man im Seitenschiff aufgestellt hat – wie der Herzschlag dieser dunklen Stille. Auf dem Uhrwerk ist eine Plakette angebracht mit Zeilen aus „The Waste Land“: „Unwirkliche Stadt… wo Saint Mary Woolnoth Stunden zählte/ Mit einem dumpfen Nachhall auf dem neunten Schlag.“ Im Dämmerlicht wird der Blick auf den großen, raumbeherrschenden Baldachin hinter dem Altar gelenkt. Er fasst zwei purpurfarbene Tafeln ein, auf denen in Goldschrift die zehn Gebote verzeichnet sind. Darunter steht das Vaterunser, das Gebet der Christenheit schlechthin.

Letzten Ende ließ er sich taufen

Die Schlussformel des Vaterunsers – „Dein ist das Reich“ – wird Eliot später in seinem nächsten großen Gedicht verwenden. Als es 1925 unter dem Titel „The Hollow Men“ erschien, besuchte er bereits regelmäßig Gottesdienste der anglikanischen Kirche.

Die Jahre bis dahin waren eine Inkubationszeit. Eliot bereitete sich bereits auf seinen Eintritt in den am Katholischen orientierten Flügel der anglikanischen Kirche vor. Am 29. Juni 1927 war es soweit: In einer abgelegenen Dorfkirche in den Cotswolds wurde er in aller Stille und Heimlichkeit getauft.


– Zitate nach der Neuübersetzung von Norbert Hummelt: „The Waste Land, Das öde Land“, Suhrkamp 2022.

– Der Verfasser des Artikels ist Autor des Buches „Revolte und Waldgang“ über die Dichterphilosophen des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2011.

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