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Herman Melville: Realität in magischem Licht

Vor 200 Jahren wurde Herman Melville geboren. Bekannt machte ihn sein "Moby-Dick". Doch auch in seinem übrigen Werk spielen metaphysische und theologische Fragen eine große Rolle.
Herman Melville, Schriftsteller
Foto: IN | Was der weiße Pottwal und seine Hieroglyphen an der Stirn letztlich bedeuten, hat der Schriftsteller Herrmann Melville offengelassen.

Ein halbverrückter Kapitän jagt einen Wal, der ihm bei früherer Gelegenheit ein Bein abgebissen hat. Soweit dürfte die Handlung des Romans „Moby-Dick“ von Herman Melville allgemein bekannt sein, auch jenen, die weder „Moby-Dick“ gelesen noch jemals den Namen Melville gehört haben. Doch selbst literarisch Interessierte haben oft ein verkürztes Bild von Melville.

 „Moby-Dick": Ein Klassiker der Weltliteratur 

Denn mit anderen Klassikern der Weltliteratur teilt „Moby-Dick“ das Schicksal, dass die gekürzten Versionen zum Gebrauch der Jugend vielen bekannter sind als das auf den ersten Blick recht sperrige Original mit seinen zahlreichen wissenschaftlichen und philosophischen Exkursen, seinen verschachtelten Satzperioden und seiner komplexen Symbolwelt. Ganz zu schweigen davon, dass man Melville nicht auf diesen einen Roman reduzieren darf. Sein 200. Geburtstag am 1. August dieses Jahres bietet eine gute Gelegenheit, ein reichhaltiges literarisches Werk neu zu würdigen, in dem metaphysische und theologische Fragen eine große Rolle spielen.

Das gilt nicht zuletzt für „Moby-Dick“, den aus der Perspektive des Seemanns Ismael geschriebene Roman über die fatale Jagd des Kapitäns Ahab auf den namensgebenden weißen Pottwal. Allein dessen Farbe regt den Erzähler zu einem kapitellangen kulturgeschichtlichen Exkurs über die Bedeutung der Farbe Weiß an. Der Wal wird im Verlauf der Handlung zu einem Symbol: für das Böse, für Gott, für das Universum, für die Natur, für das Schicksal... – und bleibt in seiner eigentlichen Bedeutung doch rätselhaft.

Auf wunderbare Weise gerettet

Mysteriös ist für den Erzähler schon alleine die Physiognomie der Pottwale: Die Falten am Haupt eines Pottwals wirken auf Ismael wie Hieroglyphen, die er nicht entziffern kann. Unklar bleibt am Ende auch, ob der weiße Wal die dramatische Schlussszene überlebt, in der das Schiff kentert und die gesamte Besatzung zugrundegeht – mit Ausnahme des Erzählers Ismael. Wie der biblische Ismael auf wunderbare Weise vor dem Verdursten in der Wüste gerettet wurde, so überlebt er als einziger den Untergang des Walfängers.

Kapitän Ahab, benannt nach einem biblischen König, dem vom Propheten Elias Gottes Strafe verkündet wurde, trägt seinen Namen zu Recht. Seine Auflehnung gegen Gott findet ihren Höhepunkt in der blasphemischen Zeremonie, in der er seine Harpune „tauft“. Und zwar mit Menschenblut, das drei heidnische Besatzungsmitglieder gespendet haben, und mit der Formel: „Ich taufe dich nicht im Namen des Vaters, sondern im Namen des Teufels.“ Sein enger Vertrauter, der Harpunier Fedallah, ist ein Feueranbeter, der wie ein Sendbote der Unterwelt wirkt. Ahab scheitert an seinem gottlosen Hochmut. Am Ende reißt ihn der Wal mit sich in die Tiefe.

„Ich taufe dich nicht im Namen des Vaters,
sondern im Namen des Teufels.“
Aus: "Moby-Dick", Herman Melville

Zwischen dem Erscheinungsjahr von „Moby-Dick“ (1851) und Melvilles Tod am 28. September 1891 in seiner Heimatstadt New York wurden nur exakt 3.215 Exemplare des Buches verkauft, und noch mehrere Jahrzehnte lang blieb es eher ein Geheimtipp. Sogar ein Joseph Conrad konnte mit dieser „eher überspannten Rhapsodie zum Thema Walfang“ nach eigenem Bekunden nichts anfangen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg setzte der weltweite Siegeszug des Buches ein – und der Aufstieg seines Autors zu einem großen Klassiker.

Dessen Leben verlief anstrengend und äußerlich über weite Strecken erfolglos. Als Jugendlicher erlebte er den finanziellen Ruin und den frühen Tod seines Vaters. Mit zwanzig Jahren ging er zur See, wo er auch Erfahrungen auf einem Walfänger sammelte. Als Deserteur lebte er eine Zeitlang unter Eingeborenen auf den Marquesas-Inseln im Pazifik.

Wenig verwunderlich, dass er seine literarische Laufbahn 1846 mit einem auf seinen eigenen Erlebnissen beruhenden Seefahrerroman begann („Typee“), der großen Anklang fand. Doch diese erfolgreiche Periode in Melvilles Leben währte nicht lang. Mit „Moby-Dick“ begann sein Stern zu sinken. 1866 sah er sich gezwungen, eine Stelle als Zollinspektor im New Yorker Hafen anzutreten. Armut, Überarbeitung und Alkoholismus begleiteten ihn viele Jahre lang. Seine literarischen Leitsterne aber waren die Bibel, Shakespeare und John Miltons „Paradise Lost“.

Viele Werke von Herman Melville behandeln religiöse Fragen

Dem calvinistischen Glauben seiner Vorfahren hatte sich Melville früh entfremdet und war in seinen späteren Jahren nach dem Zeugnis seiner Frau ein höchstens sporadischer Kirchgänger. Dennoch ließen ihn religiöse Fragen nicht los. Den reinsten Ausdruck fand sein weltanschauliches Ringen in dem 1876 veröffentlichten monumentalen Versepos „Clarel“ (18.000 Verse, und damit länger als Homers „Ilias“) über die Pilgerfahrt des jungen Theologiestudenten Clarel, der hofft, seinen ins Wanken geratenen Glauben durch eine Reise durch das Heilige Land und die Besichtigung der biblischen Originalschauplätze wieder festigen zu können.

Während seiner Reise trifft er auf Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen. Seinen Glauben findet er dabei zwar wieder, doch der Tod einer jungen Jüdin, in die er sich in der Zwischenzeit verliebt hat, erschüttert ihn am Ende aufs Neue. Der Literaturwissenschaftler Ronald Mason erkannte in Melvilles Epos starke Sympathien für den katholischen Glauben, auch wenn Melville sich formal nie zu diesem bekannte.

„Erschlagen von einem Engel Gottes!
Und doch muss der Engel hängen!“
Aus: "Billy Budd, Sailor", Herman Melville

Melvilles vollendetste Leistungen sind seine kürzeren Erzählungen. Zu ihnen gehört sein vielleicht interessantester Text, die erst Jahrzehnte nach seinem Tod erschienene Erzählung „Billy Budd, Sailor“. Billy Budd, ein 21-jähriger Matrose auf einem britischen Kriegsschiff des Jahres 1797, ist eine auch äußerlich engelsgleiche Gestalt, ein „Adam vor dem Sündenfall“. Dadurch erregt er den Hass des von Natur aus schlechten Bootsmanns John Claggart, der dem jungen Matrosen seinen guten Charakter neidet. Melville spielt in diesem Zusammenhang selbst auf den theologischen Begriff des „Mysterium iniquitatis“ an. Claggart klagt Bill vor dem Kapitän Edward Fairfax Vere fälschlich der Meuterei an.

Pessimismus: Das Schicksal klaglos hingenommen

Da ein Sprachfehler und seine große Erregung ihn an einer mündlichen Verteidigung hindern, streckt Billy seinen Verleumder mit einem kräftigen Schlag zu Boden, was Claggart nicht überlebt. Obwohl Kapitän Vere mit Billy sympathisiert, sieht er unter diesen Umständen keine andere Möglichkeit, als den jungen Mann vor ein Standgericht zu stellen. Gegen Widerstände setzt Vere in geheimer Verhandlung die Todesstrafe durch, da in dieser Form des Verfahrens mildernde Umstände und eigentliche Tatabsicht keine Rolle spielen dürften. Dabei weiß Vere selbst, dass Claggart recht geschehen war („Erschlagen von einem Engel Gottes! Und doch muss der Engel hängen!“). Die militärische Disziplin obsiegt in „Billy Budd“ über Vernunft und Menschlichkeit.

Der späte Melville war von Schopenhauers pessimistischer Philosophie angetan. So nimmt Billy sein Schicksal klaglos auf sich. Bevor der Matrose gehängt wird, ruft er „Gott schütze Kapitän Vere“. Billy Budd ist nicht nur ein „Adam vor dem Sündenfall“. Im Laufe der Erzählung nimmt der arglose junge Mann christusähnliche Züge an. Doch wenn man in Billy Budd Christus erkennen kann, ist dann Kapitän Vere – der dem jungen Mann väterlich zugetan ist – also eine Allegorie auf Gott-Vater, der seinen unschuldigen Sohn opfern muss?

Rückzug aus der modernen Gesellschaft

Rätsel gibt auch die Erzählung „Bartleby, The Scrivener“ („Bartleby der Schreiber“) auf. Ein Rechtsanwalt in der Wall Street stellt einen Kopisten ein. Dieser erweist sich als Mann von sanfter Renitenz (mit der stereotypen Formel „Ich möchte lieber nicht“). Erst verweigert er bestimmte Arbeiten, dann stellt er die Arbeit ganz ein, und nach seiner Entlassung weigert er sich sogar, das Büro wieder zu verlassen, in dem er sich häuslich eingerichtet hat. Der Anwalt bleibt ihm persönlich gewogen und bringt es nicht über sich, ihn gewaltsam entfernen zu lassen. Lieber zieht er selbst um.

Der Nachmieter erweist sich als weniger verständnisvoll, und Bartleby landet letztlich im Gefängnis. Sein früherer Arbeitgeber versucht ihm zu helfen, doch Bartlebys Renitenz vermag er auch jetzt nicht zu überwinden. Dieser verweigert die Nahrungsaufnahme und stirbt in der Haft. Auch bei dieser Geschichte sind die Interpreten sich uneins, was sie bedeuten soll: Steht Bartleby vielleicht für das Schicksal des Schriftstellers in der modernen Gesellschaft, dem nur noch Verweigerung und Rückzug bleiben?

Beispielhaft für Melvilles Kunst, die Realität in ein magisches Licht zu rücken, kann die Beschreibung eines New Yorker Gefängnishofes in „Bartleby“ stehen: „Das ägyptisch-wuchtige Mauerwerk wirkte düster und bedrückte mich. Doch zu Füßen wuchs ein weicher, ebenfalls eingekerkerter Rasen. Es war wie im Inneren der Pyramiden und als sei durch seltsamen Zauber in den Mauerspalten Grassamen hervorgesprossen, den Vögel zerstreut hatten“ (Übs. Schnack).

Und charakteristisch für Melville ist es auch, dass „Bartleby“ trotz des traurigen Endes durchaus komische Szenen aufweist, bei denen man sich das Lachen nicht verbeißen kann. Denn neben seinem Sinn für Symbole und Mystik ist es gerade auch sein Humor, der Melville zu einem der ganz großen Schriftsteller macht.

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