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Friedrich Christian Delius: Von den letzten Dingen

Der kürzlich verstorbene Schriftsteller Friedrich Christian Delius kannte die Sprachen des Schweigens.
Friedrich Christian Delius
Foto: IMAGO / epd | Friedrich Christian Delius hat sich in seinen Büchern immer wieder mit christlichen Fragen beschäftigt.

So wurde das Schweigen mein Markenzeichen.“ Und es wurde zum Lebensthema des kürzlich verstorbenen Autors Friedrich Christian Delius, das seinem letzten Buch den Titel gab: „Die sieben Sprachen des Schweigens“. Drei autobiographische Erzählungen umfasst das schmale Bändchen, sie stehen für sich und einen Lebensabschnitt des Autors und sind doch alle kunstvoll miteinander verwoben. Das deutsch-israelische Schriftstellertreffen, zu dem Delius 1994 nach Jerusalem eingeladen wird, erlebt der Pfarrerssohn als Befreiung von seinen persönlichen Sohn-Vater-Problemen.

„Der als schwierig geltende, spröde und scheue Schriftsteller
hat in seinem letzten, vermutlich persönlichsten Werk
sein Herz und seine Seele geöffnet“

F.C. Delius liest in Jerusalem den Text „Ich war Isaak“ und verknüpft die ihm von Kind an vertraute biblische Geschichte mit seiner kindlichen Erfahrung: „Dreieinhalb Seiten, sehr private, sehr intime Nöte eines Elfjährigen mit einem Vater, den sich das Kind als übermächtigen Abraham mit Messer und Mordbereitschaft vorstellt, mordbereit aus absolutem, nicht angezweifeltem Gottesgehorsam, der stärker ist als die Liebe zum Sohn, dessen Schrecken keine Rolle spielt bei Moses im Alten Testament.“ Die Lesung, so nahe am Ursprungsort des Geschehens, dem Tempelberg, wird zum überwältigenden Erfolg.

Die israelischen Zuhörer zeigen sich tief bewegt vom Text, die überzeitlich gültige Bedeutsamkeit des Themas Abraham/Isaak löst ausführliche Gespräche und Diskussionen aus.

Für den sich selbst als Agnostiker bezeichnenden Autor bedeutet der erste Besuch im Heiligen Land aber noch mehr: die Sichtbarwerdung der biblischen Orte und Gestalten, Reflexionen über die christliche Religion und eine behutsame innere Annäherung an den früh verstorbenen gestrengen Vater, den er bisher – als 50-Jähriger – noch immer angstbesetzt verantwortlich sah für sein kindliches Stottern und die daraus resultierende Schweigsamkeit.

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Nicht das Böse, das Gute ist unerklärbar

Die 2003 in Jena stattfindende Schriftstellertagung, Thema der zweiten Erzählung, beschert Delius einen kurzen, nicht sehr gesprächigen Spaziergang mit dem verehrten Kollegen Imre Kertész, zum damaligen Zeitpunkt seit einem Jahr Literaturnobelpreisträger.

„Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse, im Gegenteil: es ist das Gute“, dieses Kertész-Zitat aus dem Buch „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ beschäftigt Delius, den 1943 in Rom Geborenen und im hessischen Korbach Aufgewachsenen, hat er doch dort als nichtsahnender Jugendlicher einen von Kertész´ Peinigern, nämlich den „Gestiefelten“ aus dem „Roman eines Schicksallosen“, persönlich gekannt. Erst 1957 wurde der ehemalige SS-Obersturmbannführer Hermann Krumey, ein enger Mitarbeiter Adolf Eichmanns bei der Deportation ungarischer Juden, in Delius´ Heimatstadt festgenommen, wo er bis dahin als Drogist unerkannt lebte. Darüber wird während des Spaziergangs nicht gesprochen.

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Nach dem Koma, eine lakonische Lebensanzeige

In der darauf folgenden schlaflosen Hotelnacht, im Nachdenken über das Schweigen als einer eigenen Sprache, fallen dem Schriftsteller die „sieben Sprachen des Schweigens“ ein, Schweigen aus: „Angst/ Dummheit, Unwissenheit/ Schüchternheit, Respekt/ Verlegenheit, Unentschiedenheit/ Überlegenheit/ Faulheit, auch Denkfaulheit/ Macht“.

Tod, Opfer, Schweigen und Verstummen ziehen sich durch die essayistischen Erzählungen. In der dritten Geschichte, „Lebensanzeige“ benannt, schildert der Autor seine Nahtoderfahrung. F.C. Delius wird 2008, kurz vor seinem 65. Geburtstag von einem „unsichtbaren Teufel“ angesprungen, einem unerkannten Virus, das sich in seiner Lunge einnistet und das Atmen so massiv erschwert, dass sich der Schriftsteller einen Tag vor dem Geburtstag in die Notaufnahme begibt und in die Intensivstation gebracht wird. Der Behandlungsfehler eines Arztes lässt ihn für Wochen ins künstlich beatmete Koma fallen, erst nach zweieinhalb Monaten – nach mühsam wieder erlerntem Sprechen, Schreiben und Gehen – kann er seinen Freunden eine dankbar-lakonische „Lebensanzeige“ schicken.

Am Schluss steht demütige Dankbarkeit

Das, was der Wiedergenesende aus seiner Zeit im Zwischenreich erinnert, ist ein einziger dunkler Albtraum, der aus dem Seelendickicht aufsteigt, unterbrochen von Phasen heiterer Gelassenheit, in denen ihm das Lutherlied „Mitten im Leben sind wir mit dem Tod umfangen“ in den Sinn kommt. Der Kranke ergibt sich – der Hilflosigkeit, der körperlichen Schwäche und dem Schicksal. Dass er nun und diesmal gänzlich unfreiwillig seiner Stimme beraubt und somit zum Schweigen verurteilt ist, nimmt er persönlich übel, auch wenn es nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Wie auch die Tatsache, dass ein einzelner Mensch – der Arzt – einen gravierenden Fehler begeht und ganz viele andere Menschen ihn zurück ins Leben helfen müssen. Dass dies gelungen ist ohne bleibende Schäden, lässt den Autor eine demütige Dankbarkeit empfinden.

Der als schwierig geltende, spröde und scheue Schriftsteller hat in seinem letzten, vermutlich persönlichsten Werk sein Herz und seine Seele geöffnet. „Das Sterben hattest du dir schwerer vorgestellt“, schreibt er am Beginn. Es war noch nicht so weit. Vierzehn Jahre wurden ihm noch geschenkt, er hat sie genutzt. Im Mai 2022 ist Friedrich Christian Delius mit 79 Jahren gestorben.


Friedrich Christian Delius: Die sieben Sprachen des Schweigens.
Rowohlt Berlin Verlag 2021, 192 Seiten,
EUR 20,–

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