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Die Häresie der Anpassung

Martin Mosebachs Buch „Die 21“ ist eine Provokation für die deutsche Wellness-Spiritualität. Von Alexander von Schönburg
Buchtitel: "Die 21: Eine Reise ins Land der koptischen Märtyrer." von Martin Mosebach
Foto: dpa

Wenn man Martin Mosebachs neues Buch über das Schicksal der Kopten liest und danach einen herkömmlichen deutschen Gottesdienst besucht, muss man schon sehr gefestigt sein, um nicht in Schwermut zu verfallen. Hier eine Kirche, die nicht aneckt, in der die Vorzüge der Fastenzeit mit dem Hinweis auf Entschlackung und persönlichem Wohlbefinden beworben werden, kurz: eine Kirche, in der unverhohlen der Mensch und nicht Gott im Mittelpunkt steht. Dort eine Kirche, die nicht den Luxus genießt, mit dem Staat verwoben zu sein, weil sie seit etwa 1 000 Jahren im Zustand der Verfolgung existiert. Eine Kirche, die mit niedrigschwelligen Angeboten wie hierzulande nicht aufwarten kann. Wer sich in Ägypten zum Christentum bekennt, dem sind nicht nur jede Karrierechancen in Verwaltung, Staatsapparat oder Militär verwehrt, der lebt auch in ständiger Bereitschaft, den Märtyrertod zu sterben.

Für alle, die mit dem Anlass für Mosebachs Expedition nach Ägypten nicht vertraut sind: Am 12. Februar 2015 veröffentlichte der Propaganda-Sender der Terrororganisation IS ein aufwendig inszeniertes Video, in der die Enthauptung von 21 ägyptischen Wanderarbeitern gezeigt wurde, die zuvor in der Nähe der libyschen Stadt Sirte entführt und gefoltert worden waren, nachdem sie sich geweigert hatten, Christus zu verleugnen. Einer der 21 war, wie sich später herausstellte, kein Kopte, sondern ein zunächst nicht-gläubiger Schwarzafrikaner, der aber, nachdem er den Glauben seiner 20 Mitgefangenen sah, sich zum Christentum bekannte und somit sein eigenes Todesurteil sprach. Wenige Tage nachdem die Ermordeten identifiziert waren, erklärte das Oberhaupt der koptischen Kirche, Tawadros II., alle 21 zu Märtyrern und Heiligen der koptischen Kirche. Ihr Feiertag ist – nach unserem Kalender – der 15. Februar.

Mosebach begab sich, wohl angestachelt durch die nur sehr beiläufige Berichterstattung in der deutschen Presse, nach Oberägypten, genauer: in den Ort Samalout, aus dem die meisten der Märtyrer stammten. Er wollte mehr über die Märtyrer und ihre Familien herausfinden, er wollte Christen kennenlernen, die für ihren Glauben zu sterben bereit sind.

Wer Mosebachs Romane und Reise-Essays kennt, wird nicht überrascht sein, dass dabei ein sprachliches und dramaturgisches Meisterwerk entstanden ist. Es gibt derzeit wahrscheinlich keinen deutschen Schriftsteller, der in einer klareren, unverschnörkelteren Sprache schreibt als der katholische Büchnerpreisträger. Man liest Passagen, die einen erschaudern lassen, andere, die den Leser in eine pittoreske Welt entführen, poetische Passagen und andere, die nachdenklich stimmen. Man findet Dialoge, die einen tief in die Seelenverfassung dieses Landes blicken lassen, man erfährt Tiefgründiges über die Liturgie der Kopten, passagenweise liest sich „Die 21“ wie eine Fortsetzung seiner inzwischen legendären und auf der ganzen Welt verbreiteten Streitschrift „Die Häresie der Formlosigkeit“.

Wie immer bei Mosebach, ist die Lektüre seines Buches auch lehrreich. So erinnert er einen daran, dass die Kopten nicht schlicht die christliche Minderheit Ägyptens sind. Sie sind die eigentlichen Ägypter, die Ureinwohner des Landes. Sie sind ein Volk, das Volk Ägyptens, das, mit Griechen gemischt, bis zur islamischen Eroberung in der Nachfolge des Pharaonen-Staates stand. „Die altkoptische Sprache“, schreibt Mosebach, „ist die letzte Gestalt, welche die Sprache der Pharaonen unter hellenistischer Herrschaft angenommen hatte, und so ist sie denn bis heute auch die Sprache der Liturgie und lebt in ihr, und nur in ihr, fort.“ Bis zur Islamisierung im 7. Jahrhundert war das Christentum – wie ja auch in ganz Nordafrika – die dominierende Religion. In einem Dialog kommt ein koptischer Hotelier zu Wort, der es so erklärt: „Die Araber sind als Invasoren aus der Wüste bei uns eingedrungen. Ich vergleiche manchmal unser Schicksal mit dem der Indianer in Amerika – den Ureinwohnern, die von den englischen und spanischen Conquistadoren ausgeplündert, dezimiert, ihrer Sprache beraubt und an die Seite gedrängt worden sind.“ Die Unterdrückung, die die Ur-Ägypter seit Jahrhunderten durch die Araber erfahren, und die Gleichgültigkeit, mit der der Westen ihr Schicksal hinnimmt, erscheint dadurch in einem noch brutaleren Licht.

Martin Mosebachs Buch ist Reportage, Essay, Lektion und sprachlich ein Lesegenuss. Die Lektüre ist aber vor allem erschütternd. Denn zwei Fragen bleiben bei der Lektüre von „Die 21“ unvermeidbar: Erstens: Bei allem Guten, das die Verquickung von Christentum und europäischer Kultur und Politik zur Folge hatte – ist die Kirche der Märtyrer in Ägypten nicht näher dran an dem, was Kirche eigentlich sein sollte – Skandalon?

Und zweitens: Steht unserer Kirche hier, wenn wir die Lehre Christi ernstnehmen, vielleicht Ähnliches bevor? Schon jetzt bläst uns – siehe LGBT-Rechte und Genderwahn, um nur zwei ideologische Grundpfeiler der nun vorherrschenden Kultur zu nennen – der Wind heftig ins Gesicht. Was geschieht, wenn wir uns nicht weiter wegducken können? Wenn uns plötzlich Nachteile in Beruf und Gesellschaft erwachsen, wenn wir unseren Glauben ans Evangelium bekennen? Ein Satz am Ende von Mosebachs Buch klingt noch lange nach der Lektüre nach: „Für die Zukunft des Christentums“, heißt es in „Die 21“, „halten die Kopten Erfahrungen bereit“, nämlich: „Wie kann Christentum aussehen und weiterbestehen, wenn die Mehrheitsgesellschaft und der Staat nicht mehr duldend und wohlwollend sind, sondern feindselig werden, und wenn den Christen die Teilnahme am offentlichen Leben verweigert wird, weil sie sich der Zivilreligion nicht unterwerfen wollen?“

Das ist das eigentlich Erschütternde an Mosebachs Buch: Es ruft ins Bewusstsein, dass das wohlige, mit dem Staat und der vorherrschenden Meinung arrangierte Christentum der Ausnahmezustand ist. Im Vergleich zu den Kopten sind wir alle Freizeit-Christen, die für ihren Glauben nichts riskieren müssen. Ein Blick in die Bücherregale Bischöfe Buchhandlungen, ob in Paderborn oder München oder Mainz, genügt, um zu sehen, dass unser Christentum zu einer Wellness-Religion verflacht ist, die – aus Angst vor Marginalisierung – letztlich dem gleichen Ego-Kult Vorschub leistet, wie die narzisstische Gesellschaft um uns herum. Heilfasten, Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung. Unsere Kirchen sind gut geheizt und wir werden aus dem Gottesdienst mit dem wohligen Gefühl entlassen, etwas für das seelische Wohlbefinden getan zu haben.

Die Kirche der Kopten, die Mosebach uns vor Augen stellt, ist eine andere. Sie ist Mahnung, womöglich auch Zukunftsvision und damit eines der wichtigsten Bücher über den Zustand des Christentums überhaupt.

Martin Mosebach: Die 21: Eine Reise ins Land der koptischen Märtyrer. Rowohlt Verlag 2018, 272 Seiten, ISBN-13: 978-349804-540-1, EUR 20,–

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Alexander von Schönburg Bischof Evangelium Häresie Jesus Christus Kopten Martin Mosebach Tawadros II.

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