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Fjodor Michailowitsch Dostojewski - Ein Visionär mit Christus

Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) ließ sich durch nichts im Glauben entmutigen. Von Barbara Wenz
Fjodor Michailowitsch Dostojewski,  gemalt von Wassili Perow.
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Am 11. November 1821 als Sohn eines Militärarztes in Moskau geboren, wuchs Fjodor Michailowitsch Dostojewski mit seinen Geschwistern in einer Familie auf, deren Alltag von Gottes Gegenwart geprägt war: Jeden Morgen und Abend sowie zu den Mahlzeiten wurden gemeinsam Gebete gesprochen, jedes Jahr unternehmen die Dostojewskis eine Wallfahrt in das Kloster des heiligen Sergius. Diese Selbstverständlichkeit des Glaubens war es, die ihn später die traumatische Erfahrung einer Scheinhinrichtung und die grausamen Jahre der Katorga, der Zwangsarbeit in Ketten, in der sibirischen Verbannung überstehen ließ.

Die Hinrichtung wurde erst in letzter Sekunde gestoppt

Nach einem Studium an der Militäringenieursschule in St. Petersburg war sein Entschluss gewachsen, sich mit der Schriftstellerei einen Lebensunterhalt zu verdienen. Sein Erstling „Arme Leute“, ein Briefroman im Stil der sogenannten Natürlichen Schule, erschien 1846 und machte den 24-jährigen Dostojewski über Nacht nicht nur zum Publikumsliebling, sondern auch zum Star der Petersburger Literaturszene. Vor allem der Kreis um den Kritiker Wissarion Belinski folgt den Idealen der französischen Aufklärung, diskutiert über die Möglichkeiten eines Aufstandes, um die Bauern zu befreien und litt unter zaristischer Zensur. Belinskis Brandbrief im Namen des Fortschritts, der Zivilisation und des Humanismus in Replik auf Nikolai Gogols Bekenntnis zu Orthodoxie und Zarentum war es, der 1849 zur Verhaftung Dostojewskis führte, der das Schriftstück wiederholt in sozialistisch-revolutionären Kreisen vorgetragen hatte.

Nach über acht Monaten zermürbender Haft in der Peter- und Paul-Festung führt man ihn und seine mitangeklagten Genossen zur Vollstreckung des Todesurteils wegen staatsfeindlicher Verschwörung auf den Semjonowplatz. „Wir werden bei Christus sein!“, flüstert er in Erwartung der Gewehrsalve seinem Nachbarn zu. Doch in letzter Sekunde wird die inszenierte Hinrichtung gestoppt, die Begnadigung des Zaren verlesen, welche die Strafe in sieben Jahre Zwangsarbeit in Sibirien wandelt. Woran weitaus gefestigtere Charaktere zerbrechen, daran wächst der eigentlich psychisch labile Dostojewski. Tatsächlich steht er die unmenschlichen Bedingungen im Lager, wo er mit gewöhnlichen Verbrechern auf engstem Raum zusammenleben muss, deren anhaltender Verachtung er sich ausgesetzt sieht, und das Schlimmste, das auferlegte langjährige Schreibverbot, durch.

In dieser Situation ist der geschwisterliche Beistand, den er durch eine Dekabristenfrau, Natalja Fonwisina, erfährt, die ihrem Mann in die Verbannung nach Tobolsk gefolgt ist, überlebenswichtig für ihn. Fonwisina ist es auch, der er nach vier Jahren Zuchthaus, er hat noch auf unbestimmte Zeit als gemeiner Soldat in Sibirien zu dienen, sein Bekenntnis schreibt: „Es besteht in dem Glauben, dass es nichts Schöneres, Tieferes, Einnehmenderes, Vernünftigeres, Mutigeres und Vollkommeneres gibt als Christus … Und mehr als dies: Bewiese mir jemand, dass Christus jenseits der Wahrheit wäre, und wäre die Wahrheit tatsächlich jenseits von Christus, dann möchte ich lieber mit Christus sein als mit der Wahrheit.“

Als er im Jahre 1860 nach zehn Jahren Abwesenheit endlich wieder nach Petersburg zurückkehrt, erlebt er mit der Veröffentlichung von „Erniedrigte und Beleidigte“ und den „Aufzeichnungen aus einem Totenhause“, mit denen er die Bedingungen seiner Haft verarbeitet, eine literarische Auferstehung. Berühmt geworden ist die Badehaus-Szene, in der Dostojewski anschaulich beschreibt, wie die Häftlinge ein Dampfbad nehmen, mit Anklängen an das Inferno. Er mag ein Strafgefangener sein, so die zentrale Aussage der Aufzeichnungen, und doch ist er ein Mensch und dein Bruder. Es ist bemerkenswert, wie sich Dostojewski nach all den Demütigungen und dem harten Lageralltag gemeinsam mit Schwerkriminellen seine christliche Perspektive auf die Leidensgenossen streng wahren konnte. Sacharow, eine ausgewiesener Kenner, wies daraufhin, dass zum Verständnis des großen Schriftstellers das Neue Testament maßgeblicher sei als alle literaturwissenschaftliche Sekundärliteratur. Mit Gründung des Magazins „Wremja“ landet Dostojewski einen weiteren Publikumserfolg, zum Konzept seiner Zeitschrift gehört die konsequente Entwicklung und der Vortrag seiner „Doktrin der Bodenständigkeit“, welche den Spagat zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“ wagte – oder vielmehr der Versuch eines Brückenschlags zwischen den beiden einander konträr gegenüberstehenden – auch heute noch für Russland wichtigen – Denkströmungen.

Einfach gesagt geht es den „Westlern“ um eine Hinwendung nach Westeuropa – im Grunde spielte diese Idee auch schon bei der Stadtgründung Sankt Petersburgs eine wichtige Rolle –, während die „Slawophilen“ davon überzeugt sind, dass sich Russland auf seine eigene Tradition, früher gehörte dazu auch unbedingt das Zarentum, heute ist es wesentlich immer noch die orthodoxe Kirche, und seinen nationalen Volkscharakter besinnen müsse. Zudem werden Russland und die Russen auch als „Gottesträgervolk“ gesehen, also als spirituell auserwählt, und national berufen in ihrer historischen Bestimmung als großchristliche Schutzmacht sämtlicher Slawenvölker. In den „Dämonen“ wird Dostojewski den Studenten Schatow ausrufen lassen: „Ich glaube, dass die Wiederkunft Christi in Russland geschehen wird.“

Politisch werden die Zeiten etwas lichtvoller – Zar Nikolaus I., der Dostojewski nach Sibirien schickte, stirbt 1855. Sein Sohn Alexander II., der Reformer und „Zar-Befreier“ besteigt nach ihm den Thron – er ist es letztlich, der die Aufhebung der Leibeigenschaft, ein längst überfälliges Sozialreformprojekt, 1861 anordnet und zielstrebig umsetzt.

Ein Jahr später unternimmt Dostojewski aus gesundheitlichen Gründen seine erste Europareise. Er hat schwere Atemwegsprobleme und soll deshalb in Bad Gastein und Biarritz kuren – die Aufenthalte gefallen ihm nicht, die Deutschen mag er nicht besonders und wenn es keine russischen Zeitungen vor Ort gibt, bekommt er schlechte Laune. Dennoch hält er sich in den Jahren 1867 bis 1871 in der Schweiz, später in Dresden auf – er ist mit seiner Frau auf der Flucht vor russischen Gläubigern. Trotz oder gerade wegen seiner chronischen Geldnot verfiel er in Spielsucht, der er in den Casinos von Wiesbaden und Baden-Baden frönte und erzählt in „Der Spieler“ davon, ein Werk, das allerdings nicht an die Bedeutung seiner großen Romane vor allem in der Spätphase herankommt. Literarisch gesehen gehören die sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu seinen fruchtbarsten. Sein relevantestes und berühmtestes Buch „Schuld und Sühne“, in neuerer deutscher Übersetzung auch „Verbrechen und Strafe“ wird 1866 publiziert. Für Thomas Mann ist „Schuld und Sühne“ der größte Kriminalroman aller Zeiten. Die Literaturwissenschaft ist sich bis heute uneins darüber, ob der berühmteste Mörder der Weltliteratur am Ende der Geschichte Gnade durch Umkehr zu Gott findet oder nicht.

1869 erscheint „Der Idiot“, allerdings zeitgleich mit Tolstois „Krieg und Frieden“, was dem Roman nicht die Beachtung verschafft, die er verdient. Dessen Protagonist, Fürst Lew Myschkin, besitzt einen solchen sanftmütigen und gütigen Charakter, dass ihn alle Welt hinter seinem Rücken nur „der Idiot“ nennt. Dostojewski hat ihn ausdrücklich als christusähnlichen Menschen konzipiert, als einen friedfertigen und zärtlichen Typus, wie wir ihm dann im Priestermönch und Starez Zosima in den „Brüdern Karamasow“, seinem letzten Roman, der einem Jahr vor Dostojewskis Tod veröffentlicht wurde, noch einmal begegnen.

Aus den „Brüdern Karamasow“ stammt auch die ganz eigenständige „Legende vom Großinquisitor“ – Iwan Karamasow, ein hochgebildeter Atheist, erzählt diese literarische Phantasie seinem tiefgläubigen jüngeren Bruder Aljoscha: Im Sevilla des 16. Jahrhunderts erscheint kurz nach einer massenhaften Ketzerverbrennung Jesus Christus und wirkt Wunder. Der neunzigjährige Großinquisitor beobachtet ihn aus der Ferne, mit „bösem Feuer im Blick“ , befiehlt schließlich der Wache, Ihn zu ergreifen und lässt Ihn in den Kerker werfen. In einem langen Monolog beschimpft der Greis den wiedergekehrten Messias, der beständig schweigt, dass Er kein Recht hätte, hier einfach zu erscheinen und alles durcheinanderzubringen, was die Kirche sich in den letzten 1 500 Jahren aufgebaut habe. Das sei letztlich die schlimmste Ketzerei und dafür werde er ihn auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen und vorher erleben, wie Seine gehorsamen Gläubigen die glühenden Kohlen für das Feuer selbst noch eifrig herbeitragen werden.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski warnte davor, nicht den Glauben zu verfälschen

Am Ende dieser erschütternden Rede küsst Jesus den Großinquisitor auf den Mund, worauf der ihm die Kerkertür öffnet, um Ihn gehen zu lassen mit der Aufforderung, Er solle niemals mehr wiederkommen. Nur auf den ersten Blick handelt es sich bei der „Legende“ um harsche Kritik an der römisch-katholischen Kirche und ihren Machtstrukturen, die nach Ansicht Dostojewskis dem orthodoxen Christentum zutiefst wesensfremd seien.

Auf einer sehr viel wichtigeren, zweiten Wesensebene aber geht es ihm weniger um Kirchenkritik, als um eine prophetische Warnung vor einem entchristlichten, gutmeinenden Universalmenschentum, wie in der folgenden Passage aus seiner Feder deutlich wird – sie entstammt einem einführenden Vortrag zum „Großinquisitor“ für die Petersburger Universität im Jahre 1879: „Wenn der Glaube an Christus verfälscht und mit den Zielsetzungen dieser Welt vermengt wird, dann geht auch der Sinn des Christentums verloren. Der Verstand fällt dem Unglauben anheim, und statt des großen Ideals Christi wird lediglich ein neuer Turm zu Babel errichtet werden. Während das Christentum eine hohe Auffassung vom einzelnen Menschen hat, wird die Menschheit nur noch als große Masse betrachtet. Unter dem Deckmäntelchen sozialer Liebe wird nichts als offenkundige Menschenverachtung gedeihen.“

Gerade für Westeuropa sah Dostojewski eine tendenzielle Gefahr heraufdämmern, die er schon 1851 in seinen Winteraufzeichnungen beschrieb: „Nationalität – das ist nur ein bestimmtes Steuersystem; die Seele – tabula rasa, ein Ding aus Wachs, aus dem man sogleich einen wirklichen Menschen formen kann, den universalen Allgemeinmenschen, einen Homunculus – man braucht nur die Früchte der europäischen Zivilisation anzuwenden und zwei, drei Bücher zu lesen.“

Dostojewskis Werk lässt sich insofern nicht mit Begriffen wie „religiös“ oder „psychologisch“ auf eine Dimension verengen, vielmehr hat er als regelrechter Visionär auch europäische Tendenzen – durchaus mit Erschrecken – diagnostiziert, die sich in den einhundert Jahren nach seinem Tod bis in die heutige Zeit weiter und grundlegender entfaltet und manifestiert haben.

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