Jörg Baberowski, Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin, wendet sich in seinem gut 1.300 Seiten starken Werk „Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich“ dem Phänomen der Macht selbst zu, die sich anhand der absolutistischen Selbstherrschaft des russischen Zaren besonders gut studieren lässt.
„Offenbar“, so Baberowski, „ist Macht kein Ding, das feste Formen annimmt, nicht etwas, was man besitzen und behalten kann. Aber was ist sie dann? Sie ist das, was Menschen aus ihr machen.“ Von solchen Menschen, Mächtigen und Ohnmächtigen, vom Zaren bis ganz nach unten zu den Bauern, handelt „Der sterbliche Gott“, wie Thomas Hobbes seinen „Leviathan“, den allmächtigen, absolutistischen Staat bezeichnet.
Ein Log- und Tagebuch der Machtverhältnisse
Baberowski legt ein Log- und Tagebuch der Machtverhältnisse vor, das gleichzeitig eine lebendige Erzählung über das alte Russland ist. Er beginnt – nach einem äußerst konzentrierten Einleitungskapitel über Wesen, Entstehung und Ausübung von Macht – mit der gewaltsamen Verwestlichung Russlands durch Peter I. (Zar von 1682–1725), der die strikte und zugleich magere Machtpyramide Russlands zementierte. Die Bojaren, der russische Adel, waren seit jeher Dienstadel, Gefolgschaft des Zaren und nicht, wie im Westen Europas, ein selbstbewusster, machtvoller Stand. Peter der Große schnitt ihre wenigen Freiräume gewaltsam zurück und durchsetzte sie mit den Noblen der gerade eroberten Peripherie, besonders der deutschbaltischen Länder. Ländereien wurden verschoben, Bojaren entmachtet und in den Dienst des petrinischen Staates, das heißt der Verwaltung und der nach preußischem Vorbild aus dem Boden gestampften Armee, gestellt.
Peter bewies, dass sich die Selbstherrschaft noch einmal in extremis steigern ließ, indem er den Adel gegen sich selbst ausspielte. Die Machtbasis des Adels, die Bauern, wurden damit zur Verfügungsmasse des Zaren, der billige Arbeitskräfte und Rekruten für sein großes Werk benötigte. Die faktisch vorher schon bestehende Leibeigenschaft der Bauern, die einen Großteil der Bevölkerung ausmachten, wurde institutionalisiert, denn jeder Adlige musste nun einen bestimmten Teil seiner Bauern dem Zaren zur Verfügung stellen. So entstand ein unüberwindbarer und von Misstrauen geprägter Graben zwischen Führungsschicht und Bauern, zumal Letztere von der Verwestlichung weitgehend unberührt blieben. Mehr hatte die russische Machtpyramide, abgesehen von Formen der lokalen Selbstverwaltung, zunächst nicht zu bieten. Ein Bürgertum existierte noch nicht. Die doppelte Versklavung des Adels und der Bauern durch den Zaren, die Baberowski als jene große Wunde zeichnet, die Peter der Große in die russische Geschichte schlug, ist das Fundament, auf dem sich die Machtstrukturen Russlands entwickelten.
Auf reformorientierte Zaren folgten rückwärtsgewandte Regenten
Wie Baberowski in den weiteren Kapiteln zeigt, war die Machtausübung der zaristischen Regierung im 19. Jahrhundert an die Rückständigkeit des Imperiums im Vergleich zum westlichen Europa gebunden. Jede Reform, jeder Schritt nach Westen, die zwangsläufig auch zur Entstehung und zum Aufblühen einer spezifisch russischen „Intelligenzija“ und eines Bürgertums führten, forderte die Herrschaft heraus und zwang die Regierung zu autoritären Maßnahmen. Da sich die aus dem Westen einsickernden aufgeklärten, liberalen und schließlich sozialistischen Ideen nicht frei entfalten konnten, brachen sie sich in inoffiziellen Zirkeln und schließlich im Untergrund mit noch größerer, terroristischer Gewalt Bahn.
Auf reformorientierte Zaren wie Alexander I. oder Alexander II., der die Leibeigenschaft aufhob und Terroristen zum Opfer fiel, folgten denn auch mit Nikolaus I. und Alexander III. rückwärtsgewandte Regenten, die gerade wegen ihres autoritären Regierungsstils die Selbstherrschaft noch einmal festigen konnten – letztendlich aber ein vergebliches Unterfangen. Denn wenn Russland Weltmacht bleiben wollte, musste es sich reformieren. Es konnte sich der Industrialisierung und der Entwicklung zu einem modernen Nationalstaat nicht entziehen. So verordneten die Minister des Zaren diese im Westen von einem liberalen Bürgertum getragene und gewollte Entwicklung autoritär von oben, in einem großen Sprung nach vorn.
Diesem Prozess, dem sich das russische Imperium verspätet gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellte, widmet Baberowski den größten Teil seines Buches. Zwei Punkte sind dabei vor allem erwähnenswert: Die Industrialisierung trieb Bauern und große Teile der jüdischen Bevölkerung in die Städte, deren Bewohner die Massenmigration als Bedrohung empfanden. Sozialrevolutionäre und marxistische, aber auch reaktionäre Bewegungen erhielten Auftrieb, der latente Antisemitismus der Landbevölkerung brach offen aus. Die Folge: Kriminalität, Aufstände, Pogrome. Die Russifizierung hingegen, die alle Völkerschaften des Imperiums in das Korsett eines Nationalstaats pressen wollte, führte zu einer Entfremdung zwischen Russen und Russländern (den russifizierten Nichtrussen).
Modernisierung führte zu Krise der Macht
Die mit Macht herbeiverordnete Modernisierung führte somit zu einer Krise der Macht. Und diese Krise – so die Lehre des Buchs – basierte auf neuen Kommunikationsmöglichkeiten. Solange die Machtpyramide eindimensional blieb, mithin Anordnungen und Gesetze ohne Gegenkräfte von oben nach unten durchgesetzt werden konnten, blieb die Regierung unangefochten. Erst durch die Entstehung bürgerlicher Gegenkommunikation, etwa durch Zeitungen, Verlage oder parteiähnliche Gruppierungen, und den durch die Industrialisierung bedingten Ausbau der Transportwege, insbesondere der Eisenbahn, die Regierungskritik aufs Land und umgekehrt zurück in die Machtzentren brachte, wurde die Herrschaft herausgefordert und destabilisiert. Man kann die heutige Diskussion um soziale Medien, Fake News und Meldestellen noch besser verstehen, wenn man Baberowskis „Sterblichen Gott“ liest. Meinungsfreiheit, die ja nichts anderes ist als komplexe Kommunikation, fordert die Macht heraus.
Die zaristische Regierung konnte dem nur noch – wie Baberowski es nennt – „Herrschaft als Improvisation“ entgegensetzen. Durch eine verfehlte Wirtschaftspolitik, daraus entstehende Hungersnöte und einen sinnlosen, weil aus Überheblichkeit begonnenen und verlorenen Krieg gegen Japan, der die Leidensfähigkeit der Bevölkerung überstrapazierte, befand sich das Imperium schließlich im Modus des permanenten Ausnahmezustands – nur zusammengehalten durch den seit 1894 regierenden Zaren Nikolaus II., der aufgrund seiner wankelmütigen und von jedermann beeinflussbaren Persönlichkeit für diese Aufgabe denkbar ungeeignet war. Eine „Autokratie ohne Selbstherrscher“, so Baberowski.
Als Minister und Gouverneure des russischen Imperiums schon längst desavouiert waren, versagte diese letzte Klammer der Macht, der Zar, am Petersburger Blutsonntag im Januar 1905, als demonstrierende Arbeiter dem Zaren eine Petition übergeben wollten. Nikolaus II. erschien jedoch nicht, stattdessen wurde auf die Demonstranten geschossen. Das System hatte verspielt, da der Mann, für den die Untertanen optierten, den sie als mythischen Beschützer des Volkes missverstanden, ihre Erwartungen enttäuschte.
Die zaristische Autorität implodierte
So implodierte die zaristische Autorität, weil die Beherrschten nicht mehr an sie glaubten, weil vertrauensvolle Kommunikation nicht mehr möglich war. Immerhin konnte das System nach 1905 durch eine Verfassung und Wahlen noch einmal stabilisiert werden.
Und trotzdem, mahnt Baberowski, hätte alles auch anders kommen können: „Zu jedem Zeitpunkt kann das Geschehen eine andere Wendung nehmen, wenn Absichten sich kreuzen, sich neue Situationen und Möglichkeiten eröffnen. Handlungen weisen ins Offene, Unbestimmte.“ Weil Baberowski das weiß, gelingt ihm eine spannend geschriebene und fast schon tragische Erzählung über Macht und Machtverlust, die man trotz der vielen Seiten nicht aus der Hand legen mag. In Selbstzeugnissen wie Tagebüchern, Briefen oder Traktaten kommen jene zu Wort, die Macht und Herrschaft im Zarenreich miterlebt, gestützt und bekämpft haben. Baberowski ist zudem ein Meister der Charakterisierung. Seine Schilderungen etwa des Reformers Witte, des frühen Lenin oder Nikolaus II. lohnen für sich schon die Lektüre eines Werkes, dessen ersten Teil er hier vorlegt.
Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott – Macht und Herrschaft im Zarenreich, München: C. H. Beck, 1370 Seiten, Hardcover, EUR 49,90
Der Rezensent ist Infomationswissenschaftler und Herausgeber des VATICAN Magazins.
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