Mit dem Spielfilm „Maria“ („Mary“) bietet Netflix eine fiktionalisierte Neuinterpretation der Weihnachtsgeschichte. Nach einer Einführung mit Marias (Noa Cohen) Off-Stimme: „Ich wurde dazu auserwählt, der Welt ein Geschenk zu überbringen. Das größte Geschenk überhaupt“, beginnt die Handlung mit der Sehnsucht von Anna und Joachim nach einem Kind, gefolgt von Marias Geburt, Kindheit und Tempeldienst. Die von israelischen Schauspielern verkörperten Eltern zeichnen sich durch Mitgefühl und Warmherzigkeit aus, während Maria als tugendhaftes Mädchen mit Herz für die Armen dargestellt wird.
Das mehrfach überarbeitete Drehbuch von Timothy Michael Hayes entstand in Abstimmung mit christlichen, jüdischen und muslimischen Religionsvertretern. Hayes und Regisseur DJ Caruso – dessen Freundschaft zum verstorbenen Weihbischof David O'Connell oft erwähnt wird – nehmen sich bei Dialogen, Szenen sowie historischen und theologischen Details kreative Freiheiten. Als Inspirationsquellen dienten das apokryphe Protoevangelium des Jakobus aus dem 2. Jahrhundert sowie die mystischen Schriften von Maria von Agreda und Anna Katharina Emmerick. Im „Crisis Magazine“ analysiert Fr. Edward Looney akribisch die Filmszenen im Vergleich zu diesen Quellen und resümiert: „Die Maria des Netflix-Films entspricht nicht der Maria, mit der ich mich als Mariologe jahrelang beschäftigt habe.“
Monumentale Bildsprache
Als Antagonist fungiert Herodes, den Anthony Hopkins mit verstörender Intensität verkörpert – sein fortschreitender Wahnsinn und seine Brutalität ziehen sich wie ein roter Faden durch den Film. Der Bau des Zweiten Tempels bietet Gelegenheit für monumentale Bildsprache. Dieser visuelle Anspruch prägt das gesamte Werk: Gavin Struthers‘ Kamera fängt die biblische Wüstenlandschaft Marokkos ein, wo der Film gedreht wurde, während James Merifields Produktionsdesign und Tina Kalivas‘ Kostüme die Zeit authentisch rekonstruieren. Die Filmmusik von Timothy Williams unterstreicht die epische Dimension der Erzählung.
Josef (Ido Tako) erscheint als junger, entschlossener Beschützer Marias, der sie mehrfach – etwa bei einer inszenierten Steinigung – rettet. Diese Szenen verleihen seiner Figur mehr Kontur als die biblische Vorlage, jedoch auf Kosten historischer Genauigkeit. Der Film verwebt historische und biblische Ereignisse mit fiktiven Elementen und stellt die chronologische Ordnung der Weihnachtsgeschichte um. So folgt etwa die Darstellung Jesu im Tempel erst nach einer actionreichen Flucht vor Herodes‘ Truppen. Diese dramaturgische Freiheit steigert zwar die Spannung, könnte aber das Verständnis der Originalgeschichte erschweren.
Keine Geburt ohne Schmerzen
Für den größten Widerspruch bei katholischen Zuschauern dürfte die Geburtsszene sorgen. Während der Film Maria in starken Wehen mit Unterstützung von Anna und Elisabeth zeigt, betont die katholische Lehre eine schmerzfreie Geburt als Zeichen ihrer besonderen Stellung und ihrer Empfängnis ohne Erbsünde verstanden. Joseph Pronechen erinnert im „National Catholic Register" daran, dass Kirchenväter und -lehrer von Augustinus bis Thomas von Aquin Marias Ausnahme von den Geburtsschmerzen als Ausdruck ihrer besonderen Heiligkeit unterstreichen. Aber auch in der Volksfrömmigkeit findet sich diese Vorstellung, etwa im Lied „Maria durch ein Dornwald ging“: „Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen, das trug Maria unter ihrem Herzen.“
Auch die Verkündigungsszene unterscheidet sich vom biblischen Bericht. Die im Film düster gehaltene Darstellung verzichtet auf die kraftvolle Engelsbotschaft aus dem Lukasevangelium. Dass Maria sich ihrer Mutter Anna anvertraut, mag künstlerische Freiheit sein. Jedoch entsprechen Annas tröstende Worte „Du bist stärker als Du glaubst“ und „Wir stehen das durch als Familie“ eher modernen Filmkonventionen als der biblischen Überlieferung. Die Maria des Evangeliums vertraut nicht auf eigene Kraft, sondern auf Gott - wie sie es in ihrem „Magnificat“ bezeugt, das im Film bezeichnenderweise fehlt.
Im Jahr 2006 gelang Catherine Hardwickes „Es begab sich aber zu der Zeit...“ („The Nativity Story“) eine überzeugendere Verfilmung. Ihre realistische Darstellung des Lebens im römisch besetzten Nazareth und das hervorragende Ensemble bleiben trotz künstlerischer Freiheiten näher an biblischer Erzählung und Tradition als der aktuelle Netflix-Film.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.