Um fünf vor zwölf ist der Tag fast zur Hälfte gelebt. Doch was für ein Tag ist dieser Samstag, der 8. November? Wir Kalendermenschen sind strukturierte Terminplaner, und die Ordnung der Zeit hat uns fest im Griff. Doch Wert und Würde eines einzelnen Tages bemessen sich nicht nur nach unseren individuellen Maßstäben und Prioritäten.
Die Menschen früherer Jahrhunderte folgten nicht in erster Linie ihren persönlichen Zeiteinteilungen, sondern denen der Natur und der Religion. Diese war mit dem eigenen Leben eng verbunden. Für Katholiken war zum Beispiel der Namenstag lange viel wichtiger als der Geburtstag, auch wenn inzwischen mancherorts der gute Namenstag wieder zu neuer Blüte reift, mit entsprechenden Ankündigungstafeln im Blumenhandel.
Insgesamt gab es vor 500 Jahren mit starken regionalen Unterschieden etwa 80 allgemeine Feiertage, Sonntage eingerechnet. Gearbeitet wurde früher wie heute im Durchschnitt 2000 Stunden pro Jahr. Das zeigt eine bemerkenswerte Konstanz im Zuschnitt des Lebens zwischen Arbeit und Muße. Der Unterschied von früher zu heute ist das Bewusstsein für den Unterschied von Alltag und Festtag. Mit Kleidung und Essen, religiösem Kult und überlieferten Bräuchen wurden die zeitlichen Zäsuren bewusst gelebt und zeichenhaft betont.
Der Tag der heiligen vier Steinmetze
Heute hätten sich hierzulande einige Berufe an die heiligen vier Steinmetze erinnert. Die Märtyrer der frühen Christenheit verweigerten die Arbeit an Götzenbildnissen und wurden der Überlieferung nach hingerichtet. Die Maurer und Bildhauer erkoren sie zu ihren Schutzpatronen. Am 8. November vor 405 Jahren entschied sich mit der Schlacht am Weißen Berg die böhmische Rekatholisierung durch die Habsburger. In den historischen Erzählungen war dieser Tag lange tief verankert und bleibt bis heute eingesenkt im Bewusstsein Ostmitteleuropas.
Die Ostkirche gedenkt heute des Erzengels Michael, mit tagespolitisch höchst aktuellen Konsequenzen. Der Heilige steht in Putins Reich für das, was er als „geistlichen Kampf“ versteht – gegen Dekadenz, gegen westlichen Liberalismus, gegen die Feinde Russlands. Putin wird immer wieder in der Kathedrale des Erzengels Michael im Moskauer Kreml gezeigt – sie ist die Grablege vieler russischer Zaren und Symbol der Staatskontinuität. Michael als Schutzpatron der russischen Armee wird gerade für die Erstürmung der Stadt Pokrowsk instrumentalisiert, zu gern hätte man heute am Michaelstag der russisch-orthodoxen Kirche eine Eroberung mit weiten Geländegewinnen verkündet. Hierzulande ist der 8. November für die weltliche Erinnerung eng mit Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle 1923 und dem gescheiterten Georg-Elser-Attentat im Münchener Bürgerbräukeller 1939 verbunden.
Reichspogromnacht und heiliger Theodor
Noch beziehungsreicher fällt der Ausblick auf den 9. November aus. Die Schande der Reichspogromnacht 1938 fällt in kaum erträglicher Datumsgleichheit mit dem Tag der nationalen Freude über den Fall der Mauer 1989 zusammen. Der 9. November 1918 war es, als Philipp Scheidemann die Republik ausrief, die als „Weimarer“ in die Geschichte einging – und scheiterte. Doch aus ihrem Scheitern erwuchs auch einer der wichtigsten Gründungsimpulse für die jetzige Bundesrepublik.
Wenn Deutsche diesen Sonntag, den 9. November, als Tag der Erinnerung begehen, dann sollte sich schamvolle Trauer über die Verbrechen an jüdischen Mitbürgern mit dem demütigen Gefühl der Dankbarkeit angesichts des Geschenks der deutschen Einheit verbinden. Namenspatron des 9. November ist passend der heilige Theodor, zu Deutsch: Gottesgeschenk. Herzlichen Glückwunsch allen Namensträgern zu ihrem Feiertag.
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