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Philipp Peyman Engel über den neuen Judenhass: Wie im falschen Film

Persönliche und exklusive Gedanken des Chefredakteurs der „Jüdischen Allgemeinen“ über den seit dem 7. Oktober 2023 virulenten neuen Antisemitismus in Deutschland.
Journalist Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine"
Foto: IMAGO/Horst Galuschka (www.imago-images.de) | Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine", betrachtet seit dem 7. Oktober 2023 jüdisches Leben in Deutschland in Gefahr wie seit 1945 nicht mehr.

Als im Januar dieses Jahres ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen verkündet wurde, kamen aus Berlin-Neukölln zunächst hoffnungsfrohe Bilder. Mehr als 100 Menschen hatten sich spontan auf dem Hermannplatz versammelt, um zu feiern. Die Veranstaltung hatte „Jubelcharakter“, wie die Polizei wohlwollend mitteilte. Es wurden Baklava und Bonbons verteilt. Doch es dauerte nicht lange, bis die Stimmung kippte. Teilnehmer skandierten „From the River to the Sea“, feierten den von Israel getöteten Hamas-Führer Yahya Sinwar. Aus der Friedensfeier war eine Jubel-Show für den Terror geworden. Die Polizei musste einschreiten.

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Die Szenen waren schockierend, aber auch symptomatisch. Sie zeigten einmal mehr, wie tief verankert der Hass auf Juden in den Herzen derer ist, die da im Namen Palästinas und der Menschenrechte auftreten.

Wir alle wissen: Schon einmal wurden in Neukölln Süßigkeiten verteilt. Schon einmal wurde gefeiert. Das war am Abend des 7. Oktober 2023. Kurz, nachdem rund 1.200 Menschen in Israel auf grausamste Weise von Mörderbanden aus Gaza ermordet worden waren. Seitdem erleben wir fast täglich, wie sich der Hass auf Israel in der Öffentlichkeit Bahn bricht. Er zeigt sich nicht mehr verschämt. Er zeigt sich ganz offen.

Der 7. Oktober ist für Juden die größte Zäsur seit 1945

Der 7. Oktober 2023 war nicht nur für Israelis, sondern für Juden weltweit ein brutaler Einschnitt. Er war die größte Zäsur seit der Schoa. Seitdem ist alles anders. Eine neue Realität existiert.

Vom nichtjüdischen Teil unserer Gesellschaft wird manchmal nicht wahrgenommen, dass viele jüdische Journalisten, Intellektuelle oder Künstler sich heute ganz anders zu bestimmten Themen positionieren als vor dem 7. Oktober. Viele sind misstrauisch geworden. Sie haben gemerkt: Die schönen Worte, die uns aus Politik und Zivilgesellschaft in Deutschland zugerufen werden, sind nicht immer deckungsgleich mit der Realität. Manchmal sind sie nichts weiter als Wunschdenken.

Die 20 Monate seit dem 7. Oktober 2023 fühlen sich an wie ein permanenter Ausnahmezustand. Das liegt nicht nur am anhaltenden Krieg in Gaza gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas, der neben den Israelis auch die Zivilbevölkerung in Gaza schwer in Mitleidenschaft zieht und dessen Verheerungen in der veröffentlichten Meinung fast ausschließlich den jüdischen Staat und fast nie den eigentlichen Verursacher dieses Leids, der Hamas, angelastet werden.

Hinzu kommt die sehr deutsche Unsitte, alles besser zu wissen. Auch, wenn man noch nie in Israel war, weiß man doch, was Israel zu tun und zu lassen hat. Früher hieß es oft, Deutschland bestehe aus 80 Millionen Bundestrainern. Heute sind aus den Fußballkennern Nahostexperten geworden. Jeder darf kommentieren, jeder darf es besser wissen. Besser auch als die Menschen vor Ort. Als die Menschen, die in Israel leben.
Besonders deutlich wurde das vergangene Woche, als Israel in einer seit Jahren geplanten, präzise geführten Aktion die Atomanlagen im Iran angriff und mehr als ein Dutzend Anführer des islamistischen Unterdrückungsapparates eliminierte. Das Unverständnis des deutschen Kommentariats war groß. Eine „Eskalation“ sei das und natürlich „völkerrechtswidrig“.

Dass Israels Armee hier versuchte, eine existenzielle Bedrohung auszuschalten, und dass die Bevölkerung trotz des massiven Gegenangriffs der Iraner auf israelische Städte in diesem Punkt hinter der Netanjahu-Regierung stand, entging den meisten Deutschen. Stattdessen wurde suggeriert, dass Benjamin Netanjahu aus innenpolitischen Gründen eine neue Front eröffnet habe. Ganz so, als gäbe es diese Front nicht schon seit Jahren. Ganz so, als führte Israel zum Spaß Krieg.

80 Millionen Bundestrainer – 80 Millionen Israelexperten

Als Experte und als Jude fühle ich mich seit dem 7. Oktober bei Debatten in TV-Studios oder bei anderen öffentlichen Auftritten oft wie im falschen Film. Hat der einzige jüdische Staat denn nicht das Recht, sich gegen Pogrome und Raketenangriffe zu wehren? Müssen sich die Israelis abschlachten lassen? Nein, so würden das natürlich auch die Israel-Kritiker nicht formulieren. Sie reden anders, verständnisvoller. „Israel hat natürlich ein Recht auf Selbstverteidigung“, sagen sie und fügen dann schnell fünf Sätze hinzu, die mit „aber“ beginnen.

Das Aber beschreibt, meist unter Verweis auf das Völkerrecht, genauestens, warum Israel zwar das Recht auf Selbstverteidigung hat, es aber nicht wirklich ausüben darf.

Zumindest nicht so, dass die Terrorinfrastruktur zerstört wird.

Zumindest nicht so, dass Menschen zu Schaden kommen.

Zumindest nicht so, dass der Nahe Osten in Unruhe versetzt wird.

Polemisch ausgedrückt: Israel darf sich wehren. Nur schießen darf es nicht. 

Noch besser fänden die „Israel-Experten“ es, würde Israel auch die andere Backe hinhalten. Hauptsache, es bleibt ruhig.
Aus sicherer Entfernung ist es wohlfeil, Zurückhaltung zu verlangen. Doch was würde passieren, würde ein Massaker wie das vom 7. Oktober in Polen passieren? Ich bin mir sicher: Die Mehrheit der Deutschen wäre für maximale Härte mit den Terroristen.

Mit Sonntagsreden ist es nicht mehr getan

Manchmal ertappe ich mich dabei, wie mir Leute, die sagen „Was geht mich das an?“, sympathischer sind also die Neunmalklugen, die ständig Appelle an die Adresse Israels richten, aber nur selten an die Adresse der anderen Kriegsparteien. Und die dann, wenn ihre ach so weisen Ratschläge nicht umgesetzt werden, leise, still und heimlich Verständnis äußern, dass hierzulande Juden haftbar gemacht werden für die vermeintlichen oder tatsächlichen Fehler der israelischen Regierung. Viele Hasskommentare auf den Social-Media-Seiten der „Jüdischen Allgemeinen“ sprechen hier Bände.

Das offizielle Deutschland erklärt in Sonntagsreden gern seine Solidarität mit uns Juden. Das ist willkommen. Aber der 7. Oktober ist der Lackmustest. Worte allein reichen nicht mehr. Es braucht jetzt Taten. Es braucht konkrete Antworten, was das hehre Wort von der Staatsräson bedeutet. Ich will wissen, ob Phrasen wie „Israels Existenzrecht ist nicht verhandelbar“ oder „Nie wieder ist jetzt“ oder „Der Antisemitismus hat keinen Platz in Deutschland“ mehr sind als nur fromme Wünsche. Oder ob sie von Regierungen, Justiz und Zivilgesellschaft in praktisches Handeln übertragen werden.

Ja, vielleicht ist es noch zu früh, um Bilanz zu ziehen. Aber Stand heute fällt die Bilanz ernüchternd aus. Da sind nicht nur die erschreckenden Zahlen zum Antisemitismus in Deutschland. Er ist von einem Höchststand schon vor dem 7. Oktober 2023 geradezu explodiert. Da hilft es auch nicht, wennman, wie die Linkspartei, den Judenhass einfach wegdefiniert, indem man per Parteitagsbeschluss eine andere Antisemitismusdefinition verlangt.

Die stark nachlassende Solidarität mit dem jüdischen Staat lässt mich Schlimmes befürchten. Leider tragen auch einzelne Äußerungen aus der neuen Bundesregierung nicht gerade zur Vertrauensbildung bei. Worte wie die von Außenminister Wadephul (CDU), es könne keine „Zwangssolidarität“ mit Israel geben, sind fatal. Sicher, Worte sind das eine, Taten das andere. Aber es fängt meist mit Worten an.

Ich verstehe, dass viele Menschen über die Zustände in Gaza entsetzt sind. Ich verstehe auch, dass die Kriegsführung Israels dort kritisch hinterfragt wird. Aber wer hier kontrafaktisch analog zur alten antisemitischen Brunnenvergifterlegende von einem „Genozid“ spricht und nur den Finger erhebt, um damit auf Israel zu zeigen, dessen Kritik kann ich nicht ernstnehmen.

Israel hat diesen Krieg nicht gewollt

Israel wollte diesen Krieg nicht. Er wurde ihm von der Hamas, der Hisbollah und im Hintergrund vom Iran aufgezwungen. Bis heute hat die Hamas nicht kapituliert und die Geiseln freigelassen. Das ist die bittere Wahrheit, die die Israel-Kritiker gerne ausblenden. Wer angegriffen wird, muss sich wehren. Wer sich nicht wehrt, wird vernichtet. Im Nahen und Mittleren Osten gilt das ganz besonders. Die Israelis können sich nicht den Luxus erlauben, diese Wahrheit zu ignorieren.

Selbstverständlich kann und soll man diskutieren, wie Israel sich wehrt. Selbstverständlich muss auch Israel humanitäre Prinzipien einhalten. Im Großen und Ganzen tut es das auch.

Man mag vom israelischen Ministerpräsidenten halten, was man will – und ich halte nicht sehr viel von ihm. Aber Israels Armee zu unterstellen, sie agiere als Handlangerin der persönlichen Interessen eines Politikers, das ist infam. Israels Soldaten kämpfen nicht für Premier Netanjahu. Sie kämpfen für das Überleben ihres demokratischen Staates. Sie kämpfen für ihre Bürger.

Auch wenn es manche nicht mehr hören können: Israel kämpft um seine Existenz. Es kämpft für eine gerechte Sache.

Die letzten 20 Monate waren schwer. Aber es gibt Licht am Ende des Tunnels. Es sieht so aus, als seien die Feinde Israels, die auch die Feinde der westlichen Welt sind, nachhaltig geschwächt. Manchmal denke ich: Vielleicht können wir Juden bald aufatmen, weil Israel seine Feinde besiegt hat – sei es in Gaza, im Libanon oder im Iran. Vielleicht können wir dann auch ein Freudenfest veranstalten - nicht am Hermannplatz, aber vor dem Brandenburger Tor.


Der Autor ist Chefredakteur der Wochenzeitung „Jüdischen Allgemeine“, Chefredakteur des Jahres (2023) und Ricarda-Huch-Preisträger (2024). Sein aktuelles Buch „Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ ist im dtv-Verlag erschienen.

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