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Jens Balzer: "Die woke Linke ist am Ende"

Im Interview mit der "Tagespost" erklärt der Journalist und Autor von "After Woke", warum er die woke Ideologie für moralisch bankrott hält.
Interview Jens Balzer
Foto: IMAGO/Roland Owsnitzki (www.imago-images.de) | Der Journalist und SachbuchautorJens Balzer geht in seinem Essay "After Woke" hart mit dem Wokismus ins Gericht.

Es ist fünf nach zwölf. Wenn die woke Linke jetzt nicht die Reißleine zieht, hat ihr letztes Stündlein geschlagen. Der Journalist und Sachbuchautor Jens Balzer, aus einer Familie von Eisenbahnern und Binnenschiffern stammend, fordert in seinem bei Matthes & Seitz erschienenen Essay "After Woke" eine Linke auf Abwegen zu Besinnung und Selbstkritik auf. Spätestens seit dem 7. Oktober, als die islamistische Terrororganisation Hamas Israel überfiel, offenbaren postkoloniale Denker und ihre Anhänger eine erschreckende moralische Haltlosigkeit und Verlogenheit. Gilt der Kampf gegen Diskriminierung und Gewalt, den sich die Wachsamen auf die Fahne geschrieben haben, für alle außer Juden?  Ist die Situation so verfahren, dass sich die woke Linke als Bündnispartner einer liberalen Demokratie diskreditiert hat? Im Gespräch mit der „Tagespost“ versucht sich Jens Balzer an einer Neuorientierung.

Herr Balzer, „Moralischer Bankrott“ - In Ihrem Buch "After Woke" fällen Sie ein harsches Urteil über die woke Linke. Wann hat diese Bewegung ihren moralischen Offenbarungseid abgelegt?

Die einschneidende Zäsur sind der 7.Oktober und die ausbleibenden Reaktionen aus Kreisen, die sonst sehr schnell mit Rassismus, Sexismus, Homophobie brandmarken. Nach den Massakern der Hamas ist das zunächst nicht passiert und dann gab es sogar vielfach Wortmeldungen, wo das Vorgehen dieser islamofaschistischen Terrorgruppe als postkolonialer Befreiungskampf umetikettiert wurde. Daran zeigte sich, wie die woke Linke in Freund-Feind-Schemata abgeglitten ist, in denen Mitgefühl und Empathie mit jüdischen Menschen überhaupt nicht mehr vorkommen kann.

Wie erklären Sie sich dieses moralische Versagen und das Schweigen der klassischen Linken?

Das postkoloniale Denken ist irgendwann umgeschlagen von der Euphorie für das Rhizomatische in etwas Manichäisches, ein Schwarz-Weiß-Denken. Die ganze Welt wird inzwischen eingeteilt entlang „the colour line“, und da sind jüdische Menschen eben Weiße und Kolonialisten und als solche nur als Täter, nicht als Opfer denkbar. Das ist das Ergebnis einer größeren tektonischen Verschiebung einer Denkrichtung, die Polarisierung beenden wollte und die ins genaue Gegenteil umgeschlagen ist.

Vergewaltigung als Waffe ist eine Kriegsstrategie. Gibt es Indizien dafür, dass die am 7. Oktober verübte Gewalt gegen Frauen systemisch wird? Im französischen Courbevoie wurde vor Kurzem ein Mädchen vergewaltigt, weil es Jüdin ist …

Dazu vermag ich keine Prognosen abzugeben. Ich stelle aber fest, dass sich seit Fertigstellung meines Manuskripts Anfang des Jahres die antiisraelische Bewegung radikalisiert hat. Richtig ist sicher, dass am 7.Oktober sexualisierte Gewalt symbolisch eingesetzt wurde: Die Frau als Repräsentantin des Volkskörpers. Was mich frappiert hat, ist, dass nicht mal sexualisierte Gewalt Queerfeministinnen davon abhält, die Hamas als Befreiungsorganisation zu betrachten. Wir haben so viele lange und wichtige Debatten über #metoo hinter uns, und nun wird in klassisch patriarchalischer Manier von links angezweifelt, dass jüdische Frauen vergewaltigt worden sind. 

Juden sind das neue Feindbild der Woken. Ist das paradox oder die erwartbare Konsequenz aus der unheilvollen Verbindung von antikapitalistischer und pro-islamistischer Ideologie?

Man muss da noch einen anderen Schlenker sehen. In erster Linie hat das zu tun mit einer Vulgarisierung postkolonialen Denkens. Von Stuart Hall hat in den 80er-Jahren mal geschrieben, es könne jetzt aber nicht sein, dass in Zukunft die Schwarzen nur noch die Guten und die Weißen die Bösen seien. Vielmehr müsse man das identitäre Denken als solches aufbrechen. Das ist aber nicht gelungen. Schwarz-Weiß-Denken wird auf alle Konflikte übertragen. So gibt es wieder die Idee der globalen Elite, des Juden als Kosmopoliten. Das liegt auch daran, dass der Kult des Indigenen, des Ursprünglichen wieder Einzug gehalten hat in das postkoloniale Denken. Es geht nicht so sehr um antikapitalistisches als antizivilisatorisches Denken. Ich glaube, die postkoloniale Linke ist da näher bei Oswald Spengler als bei Karl Marx. Das ist natürlich ein Raster, wo sich der Antisemitismus wieder einklinken kann.

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Wokeness und Postkolonialismus werden oft synonym verwendet, obschon nicht deckungsgleich. Worin besteht der Unterschied?

Wokeness ist ja ein schwammiger Begriff, den kaum einer bisher zu erklären versuchte. „Woke“ kommt ja aus der afroamerikanischen Tradition und verbindet sich erst einmal mit Antirassismus, so bei dem Bluessänger Leadbelly. Der Postkolonialismus als solcher ist zunächst einmal nichts anderes als eine akademische Forschungsrichtung, geistesgeschichtlich wichtig und legitim, da er die Geisteswissenschaft befreit hat von der westlichen Kolonisatorenperspektive. Wokeness wurde aber auch zu einem Begriff für Diversität und Inklusion, siehe Hollywood und Netflix. Dann ist es zum rechten Kampfbegriff gemacht worden, der dazu dient, die Linke lächerlich zu machen. Da ist etwas aufgebrochen worden und zugleich versteinert. Wir befinden uns an einem historischen Punkt, wo das Ganze so diskreditiert ist, dass man aus den Trümmern etwas Neues aufbauen müsste.

Postkolonialismus bezeichnen Sie als „quasi-religiöse Praxis“. Weshalb die Kopie und nicht das Original, fragt man sich. Welche Sehnsucht wird da befriedigt?

Nicht der gesamte Postkolonialismus, aber ein Teil davon hat eine Gestalt angenommen, die Michel Foucault einmal als Wahrheitsregime beschrieben hat. So ist der Begriff der Dekolonialisierung in etwas Selbsttherapeutisches, in die Sprache der Therapeuten und des Coachings übergewandert. In populären Ratgeberbüchern müssen sich ja weiße Menschen von ihren schwarzen Coaches immer auf ihre Mikroaggressionen befragen lassen. Die Erbsünde der weißen Privilegien ist nicht ableistbar. Quasi-religiöse Praxis ist es in dem Sinne, als das ganze Therapie-und Coaching-Wesen bereits eine säkularisierte religiöse Praxis ist. Die Therapeutisierung der Gesellschaft seit den 70ern, der ganze Esoterikkram der Hippies, Yoga ... das sind ja alles Substitute für religiöse Praktiken, in dem Sinne ist dann dieses ganze Dekolonisierungsdenken auch eine.

Auf den Niedergang einer Bewegung folgen oftmals Chaos und Autokratie. Könnte es sein, dass sich die Epigonen der Wokeness unangenehmer gebärden werden als die Woken selbst?

(seufzt) Ja, natürlich. Was wir beobachten – und das ist das Unangenehme – dieser quasi-religiöse Turn dieser woken und achtsamen Diskurse hat dazu geführt, dass viele Menschen da draußen glauben, mit einer sehr starken moralischen Integrität ausgestattet zu sein, der sie unangreifbar macht und in die Lage versetzt, anderen Menschen unmoralisches Verhalten vorwerfen zu können. Das führt natürlich von dieser Position aus dazu, dass sich autoritäres Gehabe durchsetzt.  

Wäre es nicht an der Zeit, einen aufklärerischen Aufstand zu proben, über alte Grenzen zwischen „links“ und „rechts“ hinweg?

Ja,ja ... deshalb habe ich ja versucht, den Kern des woken Denkens als Verfahren zu verstehen. Es geht darum, eine Infrastruktur für das herzustellen, was Jürgen Habermas mit dem herrschaftsfreien Diskurs vorgeschwebt hat. Eine Idealvorstellung wäre, dass alle, die guten Willens sind, miteinander ins Gespräch kommen. Ich glaube, auf die Linke darf man dabei nicht mehr hoffen, so bitter das ist. Für mich wäre schon viel gewonnen, wenn man ein paar liberalkonservative Menschen zum Nachdenken darüber bewegen könnte, ob sie damit nicht auch auf dem Holzweg sind, wenn sie glauben, das Woke habe sich als Ganzes erledigt. Auch wenn Teile der Queerfeministen wie "Queers for Palestine" komplett diskreditiert sind, heißt das ja nicht, dass wir uns nicht für die Rechte queerer Menschen einsetzen sollten. Im Gegenteil, die sexuelle Selbstbestimmung ist doch ein zentraler Wert des westlichen Liberalismus, den es zu verteidigen gilt gegen alle Arten des autoritären Denkens, nicht zuletzt gegen den politischen Islam, für den viele woke Linke bizarrerweise immer noch freundschaftliche Gefühle hegen.

Trotz aller Kritik ist Ihre Gesamtbilanz der Wokeness positiv. Wie begründen Sie das, obschon doch genau diese Bewegung in den moralischen Bankrott mündete?

Das, was in den moralischen Bankrott gegangen ist, ist eine identitäre Verhärtung eines Denkens, das ursprünglich genau das Gegenteil wollte. Ein ungeheuer wertvoller Gedanke ist nach wie vor, dass alles im Werden, alles im Fluss ist. Diesen Gedanken gilt es zu wahren und zu verteidigen gegen Verhärtung und identitäre Verfestigung, aber auch gegen eine Rechte und völkisches Denken. Der Kult des Authentischen und der Scholle treffen sich rechts und links. Was den Islam betrifft: Es gibt mehr Berührungspunkte als man denkt zwischen dem Islam und rechtsextremem Denken.

Glauben Sie tatsächlich, dass die woke Linke einen moralischen Neustart schafft oder bedarf es einer neuen Kraft?

Die woke Linke ist am Ende. In der Kulturbranche müssen sich alle aufgrund des moralischen Drucks pro Palästina und gegen Israel positionieren. Sie trauen sich gar nicht mehr, sich anders zu äußern. Antisemitismus ergibt sich aus Opportunismus. Immer schon. Und doch habe ich das Gefühl, dass bei Menschen, die guten Willens sind im Kulturbetrieb, etwas rumort. Das wird aber nicht reichen für eine große Debatte. Wenn man auf irgendetwas Hoffnung setzen kann, dann ist es, dass diejenigen, die nicht in diesem identitären Denken verhaftet sind, die letzten Reste dieses Links-Rechts-Schemas überwinden. Die Grenze verläuft nicht mehr zwischen links und rechts, sondern dem identitären Denken und dem Willen, Identitäten infrage zu stellen.

Zur Person:
Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, unter anderem für die „Zeit“, „Rolling Stone“, den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“ und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch „Pop“, 2019 „Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er“ und zuletzt „No Limit. Die Neunziger. Das Jahrzehnt der Freiheit“.

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Themen & Autoren
Ute Cohen Antisemitismus Hamas Islamistische Terrororganisationen Jürgen Habermas Karl Marx Michel Foucault

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