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Im Europa der Widersprüche

Ideologische Versatzstücke falsch verstandener Werte irritieren die Menschen und polarisieren die ohnedies auseinanderdriftende Gesellschaft, schreibt Baron Vinzenz von Stimpfl-Abele.
Europas schwieriger Balanceakt
Foto: IMAGO/Gary Waters (www.imago-images.de) | Ein schwieriger Balanceakt: Wie kann Europa zur Heimat im Großen werden? Und wie die jeweilige Heimat ein Europa im Kleinen?

Die Habsburger prägten – als Kaiser des Heiligen Römischen Reichs und Österreich-Ungarns, als deutsche, spanische, ungarische und böhmische Könige – nicht nur über Jahrhunderte die europäische Geschichte, sondern sie engagierten sich auch nach dem Ende der Monarchie für Europa, beeinflussten und beeinflussen seine Entwicklung bis heute.

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Der große Otto von Habsburg warnte von Anfang an vor den Risiken, die aus seiner Sicht mit den nach dem Zweiten Weltkrieg willkürlich gezogenen Grenzen verbunden waren. Er war es auch, der Anfang der 1980er-Jahre im Plenarsaal des Europäischen Parlaments den berühmten „leeren Stuhl“ als Symbol für die von der damaligen Sowjetunion besetzten und unterdrückten Länder durchsetzte und von einer „Kolonialisierung eines Teiles Europas durch die Russen“ sprach. Das historisch bedeutsame Paneuropäische Picknick im Jahr 1989, das eine wahre Zeitenwende einleitete, ging auf seine Initiative zurück. Otto von Habsburg warnte als einer von ganz wenigen schon Anfang der 2000er-Jahre eindringlich vor dem sich damals noch harmlos gebenden, in Deutschland und Österreich vielfach hofierten russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Warum Europa seine Werte wiederentdecken muss

Auch sein Sohn Karl von Habsburg ist leidenschaftlicher Europäer, war wie sein Vater Abgeordneter zum Europäischen Parlament, engagiert sich mit Energie und Kompetenz für ein Europa, das auf seine zentralen Werte nicht vergisst. So kommt es nicht überraschend, dass er heute für eine freie, unabhängige Ukraine kämpft, weil er sich die Freiheit und Unabhängigkeit Europas auf die Fahnen geschrieben hat. Kein Wunder, dass beide Persönlichkeiten, als sie den St.-Georgs-Orden vor knapp 20 Jahren reaktivierten, diese Gemeinschaft europäisch ausrichteten. Der St.-Georgs-Orden hat als „europäischer Orden des Hauses Habsburg-Lothringen“ Europa im genetischen Code und strebt nach einem starken, stolzen und vielfältigen Europa. Einem Europa, das sich seiner gemeinsamen Geschichte wie auch der Lehren, die aus ihr zu ziehen sind, ebenso bewusst ist wie seiner fundamentalen Werte.

Wenn wir heute darüber diskutieren, warum Europa eben diese Werte wiederentdecken muss und wie das gelingen kann, so ist dies die wahrscheinlich zukunftsrelevanteste Frage für das Abendland. Denn, wenn wir uns mit den Gefahren, Problemen und Herausforderungen, vor allem aber dem Potenzial und den Chancen Europas und der Europäischen Union auseinandersetzen, müssen wir uns dessen bewusst sein, dass es – wie es der Regensburger Bischof Rudolf Vorderholzer auf den Punkt gebracht hat – keine andere tragfähige Klammer geben kann als den christlichen Glauben, um das vereinte Europa zusammenzuhalten.

Baron Vinzenz von Stimpfl-Abele
Foto: SANDRA SCHARTEL | Baron Vinzenz von Stimpfl-Abele ist Prokurator des „St. Georgs-Ordens. Ein europäischer Orden des Hauses Habsburg-Lothringen“.

Realität ist aber, dass wir erleben müssen, wie Europa international zunehmend an Einfluss, Bedeutung, Gewicht und auch an Respekt verliert. Von „EU-phorie“ bei den Bürgern und vielen Politikern wahrlich keine Spur! Manche sprechen von einem Niedergang, und einige versuchen in Verbindung damit das Ende des Zukunftsprojekts EU herbeizureden. Diese Einschätzung scheint naheliegend: Von unterschiedlichen Zugängen in Europa, was Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedeuten, über die massive Krise des europäischen Sozialmodells bis zur bedrohlichen demografischen Entwicklung gibt es gute Gründe für Sorge, Pessimismus und Kritik. Selbst der renommierte Cambridge-Historiker Christopher Clark, ein ausgewiesener Spezialist für die jüngere europäische Geschichte, konstatiert: „Europa steht vor einer Zerreißprobe.“

Enttäuschung statt Identifikation

Aber ist das eine aktuelle Entwicklung, ein Ergebnis nur von Fehlern der jüngsten Zeit? Ist es wirklich so dramatisch wie nie? Vor einiger Zeit stieß ich auf das Buch „Europa im Niedergang?“ des französischen Politikwissenschaftlers und Soziologen Julien Freund, der sich vor mehr als 40 Jahren mit dem Phänomen des fragmentarischen Niedergangs beschäftigte. Fragmentarischen Niedergang definiert er als den schleichenden Verlust von den für eine Kultur charakteristischen Merkmalen. Diesen erkannte er ebenso in den Entwicklungen der zerfallenden Monarchien Europas wie auch jenen des „neuen Europas“, wie er es nannte.

Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn wir erleben eher ein Europa der Widersprüche und der Widersprüchlichkeiten als eine Wertegemeinschaft. Zwar hat man in Bezug auf die EU von Anfang an von einer „Werteunion“ gesprochen, aber damit offensichtlich hauptsächlich die wirtschaftlichen Werte gemeint. Denn wie sonst ist es zu erklären, dass man seitens der Politik unter dem Banner des Kampfes gegen die Ungleichheit in der Gesellschaft immer mehr Maß und Ziel zu verlieren scheint, der Gleichmacherei Tür und Tor geöffnet und damit unsere Resilienz nachhaltig geschwächt hat?

Wie sonst ist es zu erklären, dass man seit Jahrzehnten Migration als edle europäische Pflicht verstanden, im Gegenzug Integrationswilligkeit aber nur für „nice to have“ gehalten hat? Wie sonst ist es zu erklären, dass nach wie vor nicht wenige unter dem Deckmäntelchen des Pazifismus Frieden um jeden Preis predigen und dadurch Krieg, Terror, Gewalt, Unterdrückung und Einschüchterung vonseiten autokratischer Mächte relativiert oder toleriert werden?

Die EU: Zu mächtig oder zu ohnmächtig

Wie sonst ist es zu erklären, dass viele Politiker gefördert oder zumindest geduldet haben, dass über Jahrzehnte hinweg Weichen gestellt werden konnten, die eine Leistungsgesellschaft, in der man bereit ist, sich einzubringen, etwas zu schaffen und Verantwortung zu übernehmen, mehr und mehr in eine Leidensgesellschaft verwandelten, die weitgehend murrend-unzufrieden für immer weniger immer mehr bekommen will? Wie sonst ist es zu erklären, dass man seitens der Politik den mündigen Bürger zwar stets apostrophiert, aber gleichzeitig den Raum der individuellen Freiheit immer mehr wegreglementiert?

Dieses Europa der Widersprüche und der Widersprüchlichkeiten rächt sich in der Wahrnehmung der EU: Sie erscheint vielen Bürgern entweder zu mächtig oder zu ohnmächtig. Im ersten Fall also zu weit weg vom Einzelnen, seiner Heimat, seinen Hoffnungen, Sorgen und Ängsten. Im zweiten Fall zu zerstritten, zu sehr von den USA abhängig und darum erpressbar, zu wenig wehrhaft in Zeiten des Krieges. Beides schafft Distanz, nicht Nähe, und Enttäuschung anstelle von Identifikation. Diese Distanz und mangelnde Identifikation sind der Nährboden für Nationalismus, Extremismus, Spaltung und Radikalismus aus dem rechten wie dem linken Eck.

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Es geht mir nicht um EU- oder Politik-Bashing, aber Kritik muss erlaubt sein, gerade dann, wenn einem etwas außerordentlich wichtig ist und besonders am Herzen liegt. Daher ist es in einem Diskurs zu Europa und zur EU essenziell, Kritik zuzulassen und ernst zu nehmen. Brandgefährlich ist es, konstruktiv-kritische Meinungen mit der Todschlagkeule des „Europagegners“ abzutun, denn das ist Wasser auf die Mühlen der Renaissance des Nationalismus, wie wir sie tragischerweise gerade erleben.

Europas Seele wiederentdecken

Nur Werte und Traditionen können nachhaltig Identifikation erzeugen. Und Identifikation ist das, worum es geht, was fehlt und was wohl der wesentlichste Erfolgs- oder Misserfolgsfaktor im Hinblick auf die weitere Entwicklung Europas und ein Schlüsselelement für die Zukunft der EU sein wird. Um Missverständnisse zu vermeiden: Unter Werten verstehe ich nicht den ideologisch verordneten Tanz um das Goldene Kalb der zeitgeistigen Pseudowerte – von einer zunehmend überzogenen Gender-Religion über einen immer mehr aufgeblasenen Diversity-Kult, die hochproblematische „Cancel Culture“, bis zur teilweise schwer übertriebenen Political Correctness, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Diese verordneten ideologischen Versatzstücke irritieren die Menschen nicht nur, sie polarisieren die ohnedies schon auseinanderdriftende Gesellschaft immer mehr. Mit einem dramatischen Ergebnis: Denn Europa und die EU sind so kaum in der Lage eine Identität zu entfalten, mit der sich die Mehrheit der Bürger identifizieren kann und will. Genau das ist aber der entscheidende Punkt, denn nur Identität stiftet nachhaltiges Zusammengehörigkeitsgefühl, sorgt für grenzübergreifendes Verständnis und echte supranationale Solidarität – und damit substanzielle europäische Resilienz.

Identität bedeutet immer auch Abgrenzung, doch damit hat die Politik auf allen Ebenen ein gewaltiges Problem, hat man doch den Eindruck, sie werde immer weniger von Werten und Haltung bestimmt, sondern von Ideologien und Befindlichkeiten – und der Angst vor ebendiesen. Dabei hätte Europa allen Grund, Selbstbewusstsein zu zeigen! Aber das setzt voraus, dass man sich des europäischen Selbst auch wirklich bewusst ist.

Doch was ist nun der Kern der europäischen Identität? Sind es die religiösen Wurzeln? Ist es die beeindruckende europäische Philosophie? Oder die so bedeutende europäische Rechtsgeschichte? Papst Benedikt XVI. beantwortete diese Frage in seiner vielbeachteten Ansprache vor dem Deutschen Bundestag: „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas.“

Es geht auch um die Herzen der Europäer

Wenn man sich vor Augen führt, dass erfundene, künstlich geschaffene politische Strukturen ohne den Zusammenhalt durch das Band emotionaler Identifikation zwangsläufig krisenanfällig und langfristig instabil sind, wird klar: Diese Identität kann und muss daher Ausdruck der Seele Europas sein. Wenn wir sie außer Streit stellen, wenn wir die damit verbundenen Werte als Grundlage der Politik, des gesellschaftlichen und des europäischen Zusammenlebens verstehen, dann werden wir Haltung zeigen und Orientierung geben können. Daher müssen wir die Seele Europas wiederentdecken und wiederbeleben. Und die Europäische Union muss sie verstehen, respektieren und schützen. So kann Europa Heimat im Großen und Heimat Europa im Kleinen werden. Das ist die wichtigste Mission und größte Herausforderung, vor der das Abendland steht. Eine Herausforderung, die Politik und Gesellschaft nur bewältigen können, wenn man nicht wieder in die üblichen Handlungsmuster verfällt, denn Identität kann nicht einfach verordnet werden – sie muss von innen heraus wachsen. Es reicht nicht, die Köpfe der Europäer zu erreichen, es geht auch und gerade um deren Herzen.

Julien Freund, der trotz seiner kritischen Analysen kein Apokalyptiker oder Untergangsprophet war, diagnostizierte, dass der Niedergang einer Zivilisation jederzeit auftreten kann, wenn diese ihre Werte verleugnet und ihre Identität verliert, dass aber eine solche Entwicklung auch gestoppt und umgekehrt werden kann. Voraussetzung dafür sei in Bezug auf Europa die Rückbesinnung auf das, was uns ausmacht. Also ein Ende des selbstzerfleischenden Umgangs mit der eigenen Geschichte, der in manchen Kreisen so en vogue gewordenen Traditionsverachtung und der permanenten Relativierung europäischer Werte.


Der Autor ist Prokurator des „St. Georgs-Ordens. Ein europäischer Orden des Hauses Habsburg-Lothringen“.

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