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Hier ist Gott

Zwischen Bitte, Lob und Schweigen: Das Gebet durchzieht die Religionen als uralte, stets neue Form der Begegnung zwischen Mensch und Transzendenz.
Anbetung des Heiligen Sakraments durch Papst Leo XIV.: Auch im Gebet für den Frieden spüren wir den „Funken der ewigen Transzendenz“.
Foto: IMAGO/Maria Grazia Picciarella (www.imago-images.de) | Anbetung des Heiligen Sakraments durch Papst Leo XIV.: Auch im Gebet für den Frieden spüren wir den „Funken der ewigen Transzendenz“.

Im Gebet begegnet der Mensch Gott – doch was er daraus macht, dafür gibt es nicht nur im Christentum verschiedenste Möglichkeiten, denn kaum eine religiöse Praxis vermag die Tiefe des menschlichen Daseins so unmittelbar zu berühren wie jener uralte, zugleich intimste und universalste Versuch, das Flüchtige mit dem Ewigen in Beziehung zu setzen.

Überall auf der Welt richten sich Menschen aus diesem „Tal der Tränen“ an die Gottheit, um Hilfe zu erflehen; und dass dabei gewissermaßen aus Reflex vertragliche Züge im Sinne der lateinischen Formel „do ut des“ (also: „Ich gebe etwas, damit Du mir als Gottheit etwas zurückgibst“) auftreten, ist ebenfalls eine anthropologische Konstante, die wir hier zudem kaum schlechtreden wollen, denn es ist allzu oft in Momenten der Not und nicht der Freude, dass die Menschen sich an die Transzendenz erinnern und transformative Erfahrungen erleben. Kein Wunder, dass nicht nur die Kirchen, sondern auch die Lapidarien gefüllt sind mit verschiedensten Votivinschriften; trotzdem ist diese rein innerweltliche, kontraktuelle Perspektive auf das Gebet gewissermaßen nur ein erster Schritt auf dem Weg zu Gott und oft in Kontrast zum „fiat voluntas tua“.

In guten wie in schlechten Zeiten

Die zweite Form geht einen wichtigen Schritt weiter: das Gebet als „Te Deum laudamus“, das einzig der Verherrlichung des Höchsten gewidmet ist, die sowohl in tiefstem Leid als auch in größter Freude ertönen kann und soll; jenes „sanctificetur nomen tuum“, das vom jüdischen Tefilla über den muslimischen Salah und die zahllosen buddhistischen und daoistischen Gebete bis hin zur Messe und zum (leider in der Praxis weitgehend vergessenen) Stundengebet den Kern der Liturgie der meisten Religionen darstellt.

Doch Gebet kann mehr, allem voran, wenn es um den Übergang zur erkundenden Einsicht in die göttliche Natur geht. Am bekanntesten dürften wohl die Visionen der heiligen Theresa von Avila sein, die regelmäßig als Folge ihrer Bemühungen eintraten, sich immer wieder Christus in ihrem Inneren zu vergegenwärtigen (etwa die berühmte Transverberation ihres Herzens). Aber wir kennen auch aus den anderen großen Religionen analoge Techniken, durch intensive Versenkung einen besonderen Zustand der Empfänglichkeit zu erstellen, in den dann die göttliche Botschaft einzudringen vermag; spontan oder im Kontext eines formal gesteuerten Rahmens. Beispiele hierfür sind nicht nur verschiedenste Formen schamanischer Visionen, wie wir sie von den alten Indoeuropäern und ägyptischen Jenseitsbüchern über die zentralasiatischen Heiden bis hin ins klassische China kennen, sondern auch analoge Ansätze in den abrahamitischen Religionen.

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Ein typischer Fall ist etwa die im Judentum jahrhundertelang praktizierte und wohl auch vom heiligen Paulus geübte Merkabah- und Hekhalot-Meditation, bei der der Betende es durch ebenso komplexe wie gefährliche Techniken unternimmt, des göttlichen Thronwagens und des himmlischen Palastes ansichtig zu werden, aber auch Bonaventuras „Itinerarium mentis in Deum“. Nicht unähnlich sind die buddhistischen Meditationen der Amitabha-Schule, welche jenes paradiesische „Reine Land“ mental zu erkunden suchen, in dem man die nächste Wiedergeburt erhofft, um dort zu Füßen Amitabhas die Erleuchtung zu erlangen. Kein Wunder, dass in diesem Kontext oft genug auf die Jung’sche Theorien der „aktiven Imagination“ verwiesen wurde, die übrigens (im Gegensatz zum Freudianismus) keineswegs eine rein innerweltliche materialistische „Therapie“ darstellt, sondern vielmehr einen Geisteszustand, welcher es dem Menschen erlauben soll, an das Höchste und Reinste zu rühren und dieses in die eigene Lebenswelt zu überführen.

Wo der Dualismus zwischen Betendem und Gottheit schwindet

Doch kommen wir zu einer vierten Form des Gebets. Hier schwindet der bislang vorherrschende Dualismus zwischen Betendem und Gottheit zugunsten der Einswerdung mit der Transzendenz als Vorübung auf jenes letzte, ultimative Eingehen in das Himmelsreich. Kein Wunder, dass im Zentrum dieser Gebetsformen nicht mehr ein sachlicher Inhalt steht, sondern vielmehr der Versuch, die Kontingenz der eigenen Individualität wenigstens zeitweise auszulöschen, um in dem somit entstehenden Raum den Logos zu finden. Im Kern steht dabei der in vielen Religionen immer wieder aufscheinende Gedanke, dass das ganz durch innerweltliche Rationalität und Sündhaftigkeit bestimmte „Ego“ nur eine vorübergehende Erscheinung ist und streng von unserem eigentlichen seelischen „Ich“ abzusetzen ist, jenem Funken der ewigen Transzendenz, der sich zwar in der Begrenztheit von Zeit und Raum entwickelt und gerade durch diese zur vollen, wenn auch notwendigerweise limitierten Entfaltung gelangt, durch den Tod aber in dem Maße erneut in die Göttlichkeit eingeht, wie bereits in diesem Leben eine echte Identifizierung mit der eigenen Seele stattfand.

Der Königsweg besteht daher darin, schon heute jenes ephemere „Ego“ loszulassen, um im Gegenzug ganz mit jener durch die Seele zugänglichen göttlichen Fülle zu verschmelzen: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Denn wer in dieser Welt bereits den Tod ausgestanden und den „alten Adam“ geopfert hat, wird nach Maßgabe seiner Verdienste den Sohn Gottes in sich finden und nach dem Tod bewusst und zuversichtlich in das Reich des Vaters eingehen.

Den meisten Lesern ist hier wohl die buddhistische Praxis des „Zazen“ ein Begriff, bei der es darum geht, durch stunden-, teils wochenlanges Sitzen vor der weißen Wand und Ausschalten jeder kontingenten Denktätigkeit einen Zustand der „Unio Mystica“ herbeizurufen, bei der die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt zugunsten einer non-dualistischen Einheitserfahrung jenseits von Raum und Zeit und selbst jenseits des irdischen Verständnisses von Sein und Nicht-Sein verschwinden.

Doch findet sich jene apophatische Meditation auch in den meisten anderen Religionen, welche neben der kreativen Leere auch das endlose Aufsagen verschiedenster Mantras nutzen, welche die Seele nicht nur durch ihren heiligen Inhalt, sondern auch die vorübergehende Stilllegung des stets räsonierenden Geistes von ihrem irdischen Ballast befreit. Man denke hier an den Sufi-Islam und seine komplexe Kombination von Tanz, Musik und immer wiederholten kurzen Gebetsformeln, die in der stoßweisen Wiederholung des Gottesnamens münden, oder Abraham Abulafias ekstatische Kabbalah mit ihrer Kombination von Askese, Atemtechnik und nur scheinbar sinnlosen Buchstabenkombinationen. Dass Hinduismus und Buddhismus seit jeher Kurzformeln wie das „Om“ zur Ausschaltung der Verstandestätigkeit nutzen, ist allseits bekannt; weniger vielleicht, dass auch und gerade das Christentum diese Ansätze lange gekannt und gepflegt hat.

Beten mit dem Atmen verbinden

Man mag hier auf den Rosenkranz verweisen (Zählketten finden sich übrigens in allen Religionen), noch mehr aber auf das Herzensgebet, wie es vor allem im östlichen Christentum bekannt ist und auf den paulinischen Appell verweist, „ohne Unterlass zu beten“ (1 Thess 5,17), wobei durch die Verbindung der endlos wiederholten kurzen Formel „Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner“ mit spezifischen Atemtechniken angestrebt wird, das Gebet zu einem bis in den Schlaf präsenten Teil des Daseins zu machen. Analog zum Zazen stehen dann etwa die Empfehlungen christlicher Mystiker wie dem anonymen Verfasser der im 14. Jahrhundert entstandenen, stark von Pseudo-Dionysios Areopagita geprägten Schrift „Wolke des Nichtwissens“, die als höchste Gebetspraxis die Selbstversenkung in den non-dualistischen, allumfassenden Herrgott empfiehlt, verbunden mit der andauernden Wiederholung einsilbiger Mantren wie „Gott“ oder „Liebe“, um schon im Hier und Jetzt den entsprechend vom Ego geläuterten Geist mit Gott zu füllen.

Gerade heute, da das geistliche Gespräch mit Gott im Lärm des Alltags zu verstummen droht, gilt es, das Gebet in seinem ganzen Reichtum wieder als lebendige Wirklichkeit zu begreifen: nicht als fromme „Pflicht“, sondern als Herzschlag der Gottessuche, denn wer betet, tritt in die Gegenwart des Ewigen ein, und wer in dieser Gegenwart verweilt, beginnt jene Verwandlung, durch die Christus in uns Gestalt annimmt.


Der Autor ist Althistoriker und Publizist.

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