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„Boum“ von Lisa Eckhart: Der Körper ist  zum Anfassen da  

Mit „Boum“ legt die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart in diesen Tagen ihren zweiten Roman vor. Die Handlung spielt in Paris, wo ein Serienmörder sein Unwesen treibt. Zeit für ein paar unverdächtige Fragen.
Lisa Eckhart, Autorin und Kabarettistin
Foto: PAULA WINKLER | Lisa Eckhart, Autorin und Kabarettistin, ist immer für Aufreger gut, die bei genauer Betrachtung kein sind, sondern hintergründig tiefgehende Betrachtungen des Seins im Alltag.

Frau Eckhart, ein Maestro Massacreur ermordet in Ihrem neuen Roman "Boum" (Paul Zsolnay Verlag, 368 Seiten, 25 EUR) auf spezielle Weise Musikanten. Gesellschaftlich gesehen führt das zu einem interessanten Phänomen: Händler erkennen darin ein Geschäftsmodell, indem sie die jeweiligen Instrumente der ermordeten Musiker verkaufen. Geht der Kapitalismus über Leichen?

Definitiv. Ich glaube, da tritt er besonders gut und die Leute stört das nicht. Im Gegenteil, sie kriegen von Toten gar nicht genug. Ich kann fast nichts mehr auf Netflix sehen, wo es nicht um einen Serienmörder geht. Es gibt ein breites Publikum, das die Leichen, über die der Kapitalismus gestiegen ist, auch noch wie Geier konsumiert. Wir dürfen nicht wegschauen! Das hört man immer wieder, geht es um Armut und Gewalt. Aber in der Regel schauen die Menschen furchtbar gerne hin. Das allein sorgt auf der Autobahn für Stau. Weniger der Unfall selbst als die Gaffer.  

Besteht da eine Art Voyeurismus?

Auf jeden Fall.

Haben Sie diesen bedient mit Ihrem Buch?

Nein, beileibe nicht. Das ist kein skandinavischer Serienmörder-Thriller. Das ewige Schlachten wohnt mir nicht inne. Ich sehe auch keine Horrorfilme mehr. Die braucht man als Teenager, weil man sich langsam seiner Sterblichkeit bewusst wird und damit fertig werden muss. Sollen die Kids Splatter Movies schauen, jedoch ab 18 Jahren würde ich dieses Zeug verbieten. Ab da sind sie schädlich. Mich wundert allerdings immer wieder, was für blutrünstige Dinge sich ausgerechnet Menschen anschauen, die dann wegen Mikroaggressionen jammern. Ich wüsste gern, was sich derjenige, der sich von mir gekränkt fühlt, auf Netflix anschaut. Da gäbe es sicherlich Dinge darunter, die mich traumatisieren würden, während die Mimosen noch gemütlich Nachos essen. Wer sich als Erwachsener derlei genüsslich reinzieht, der ist mit Verlaub moralisch angeschlagen. Jetzt klinge ich wahrscheinlich wie eine Amish-Mutter, die nicht möchte, dass ihr Kind ins Kino geht, weil dort der Teufel aus der Leinwand kriecht.

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Die Figur des Sprengstoffexperten trägt den Namen BOUM. BOUM erlaubt sich Aussagen, die als islamfeindlich gewertet werden können. "Feige Knalltüten" will er "zu Allah befördern". Haben Sie keine Sorge, dass Sie als Künstlerin wegen Rassismus belangt werden könnten? Dieser Begriff kommt im sogenannten "Juristischen Dschihad" gern zum Zuge.

Nein, das sage ja nicht ich, sondern eine Figur. Die sagt auch noch Schlimmeres dieser Art. Es darf ja in der Literatur hoffentlich noch rassistische Figuren geben. Es wäre geradezu absurd, diese zu verbieten, wo sie doch angeblich überall lauern. Wenn ein Buch authentisch – ein schreckliches Wort! – sein soll, dann muss es diese rassistische Gesellschaft abbilden, die manche gern sehen wollen. In Frankreich ist das Thema ja von größerer Bedeutung. Man hätte mir Realitätsferne vorgeworfen, wenn nicht solch eine Figur vorkommen würde. Viele hätten in Zweifel gezogen, dass ich jemals in Frankreich war.

„Es darf ja in der Literatur hoffentlich noch rassistische Figuren geben.
Es wäre geradezu absurd, diese zu verbieten, wo sie doch angeblich überall lauern“

Was halten Sie von der Gleichsetzung von Islamkritik und Rassismus, die radikale Antirassisten vornehmen?

Also wenn mein Buch in diese Kreise durchdringt, dann freue ich mich darüber viel mehr, als ich Angst hätte vor Anfeindungen. Wenn französische Muslimbrüder mit BOUM in der Metro dasitzen, also dieses Bild beglückt mich schon so sehr, da nehme ich alles, was dann folgt, in Kauf.

Nietzsche erkannte, dass Dichter und Sprache der Lüge ausgesetzt sind. Wie halten Sie es mit der Lüge, Frau Eckhart?

Großartig. Ich meine, dass auch überall gelogen werden muss, wo die Wahrheit nicht unterhaltsam ist. Ich empfinde das als eine Form der Höflichkeit, ganz besonders in meinem Beruf. Ich fände es unhöflich, Menschen mit der Wahrheit zu belästigen, wenn es sie langweilt. Notlüge ist im Übrigen ein schändlicher Begriff. Die Lüge sollte nicht instrumentalisiert werden zu selbstsüchtigen Zwecken, sondern ist was Gemeinnütziges, was vor allem dazu da ist, uns zu unterhalten, ästhetisch zu beglücken, meinetwegen auch zu trösten oder zu schonen. Ich sehe in der Lüge sehr viel moralisches Potenzial. Deshalb würde ich gar nicht sagen "auf eine Weise hilflos ausgeliefert", sondern: Die Lüge ist der beste Freund des Menschen, etwas, das nur dem Menschen gegeben ist und nicht dem Tier. Die Lüge ist definitiv auch eine Kulturleistung und einer solchen können wir uns nicht genug bedienen, um uns der Gattung Mensch wieder würdig zu erweisen.

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Worin besteht dieses moralische Potenzial?

Ich erläutere das gern am Beispiel meiner Großmutter, die es als Tugend bezeichnet, ein sehr ehrlicher Mensch zu sein und gerne wie eine Dampfwalze alle überrollt mit ihrer heiligen Ehrlichkeit. Ehrlichkeit ... da ist ein Schließmuskel ständig offen und das gibt Anlass zu sehr viel Rücksichtslosigkeit. Es erfordert Kraft zu lügen. Man muss die verschiedenen Lügengeschichten im Kopf behalten und sich nicht in Widersprüche verstricken. Es ist durch und durch ein sich Aufopfern für den Anderen.

Diese Einstellung ist auch eher Französisch. Die Lüge ist eine Kunstform und eine Höflichkeitsform im Französischen. Im Deutschen ist dem ja nicht so ...
Nein, da wird die Authentizität gepriesen. Aus dem Bereich der Kunst wird die Lüge verbannt zugunsten der Wahrhaftigkeit.  Wie man empfindet, wie man fühlt, möglichst einsilbig gestammelt, das sei Kunst. Letztlich aber führt es in die Barbarei, nichts Geringeres als das.

Die Lüge als ästhetische Kunstform?

Ja, als einzig mögliche. Ich glaube nicht, dass der Wahrheit etwas Ästhetisches abzugewinnen ist. Die Bachmann hat ja gesagt, die Wahrheit sei zumutbar, aber zumutbar kann ja wohl nicht unser alleiniger Anspruch an Kunst sein. So sehr Kunst manchmal angenehm schmerzt und stichelt. Zumutbar ist nicht das Adjektiv der Wahl, wenn es um Ästhetik geht.

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Scham ist ein Begriff, der derzeit inflationär eingesetzt wird: Flugscham zum Beispiel. Auch schämen sich Politiker gern für ihr Fehlverhalten. Sie aber gehen mit der Scham sparsam um. Weshalb dieser Geiz mit der Scham?

Wirke ich geizig? Wahrscheinlich weil ich in Wahrheit ein sehr schamvoller Mensch bin. Ich werde die Scham auch immer verteidigen gegen die Barbaren von heute, die sie den Menschen austreiben wollen. Die sagen ja, man solle sich fast gar nichts mehr schämen. Nicht seines Körpers, seines Charakters, nicht einmal während der Periode seines blutverschmierten Schritts. Allesamt Dinge, an denen man sehr wohl arbeiten könnte. Schämen soll man sich lediglich seiner "Privilegien", für die man aber nun wirklich nichts kann. Die Barbaren sind erfolgreich. Die Scham ist im Begriff zu schwinden. Andernfalls gäbe es kein Bedürfnis, so viel über sie zu reden.

Wenn ein Begriff so inflationär und häufig auftaucht, ist es immer ein Beweis dafür, dass die Sache im Sterben liegt. Robert Pfaller hat ja gerade erst ein Buch über die Scham geschrieben, worin er betont, wie viel heute fremdgeschämt wird. Darauf bezieht sich auch dieses Jugendwort des Jahres cringe. Man spricht dem Anderen Schamempfinden ab und schämt sich an seiner Stelle, was freilich ein widerwärtiges Manöver ist. Etwas sehr Hinterfotziges, wenn man das so betiteln darf. Leute, die sich öffentlich für andere schämen, bei denen weiß man sehr genau, dass sie längst vergessen haben, wie die Scham sich anfühlt.

Das moralische Überlegenheitsethos löscht gern auch mal die Scham aus.

Natürlich. Die Scham geht verloren, ab dem Zeitpunkt, wo man sie komplett gezeigt hat. Das funktioniert im übertragenen, wie im körperlichen Wortsinn. Die Scham ist unauffindbar, weil man alles glatt rasiert, was sie eigentlich verdeckt. Man lüftet den Schleier und bringt das Verschleierte damit zum Verschwinden.

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Der Körper spielt eine wichtige Rolle in BOUM. Es gibt eine Tendenz zur Sakralisierung des Körpers im Sinne von "Mein Körper ist ein Tempel". Wie halten Sie es mit der Anbetung des Leibes?

Etwa so wie Jesus. Ich würde die Menschen auch gern mit Peitschen aus den Tempeln vertreiben, die sie ihre Körper heißen. Weil sie letztlich auch nur ein Kaufhaus draus gemacht haben. Überhaupt ist mir die Tempel-Metaphorik fremd. Der Körper ist zum Anfassen da. Von mir und von anderen. Er ist ein Gebrauchsgegenstand.  Ich finde, man sollte den Körper so benutzen wie die Franzosen ihre Autos. Da wird hin- und hergeschoben an der Stoßstange und man darf auch mich am Gesäß wegschieben, wenn ich im Weg stehe. Die Würde ist unantastbar im Sinne, dass ich sie nicht an meiner Oberfläche verorte.

Der Körper nutzt sich eben ab. Durch das Alter, durch unzüchtige Griffe, die ich zwar nicht gutheiße, aber dafür ist die Oberfläche da und dient in solchen Fällen als Panzer. Den Körper gar nicht zu benützen fände ich schade. Man wird dadurch auch zimperlich, wenn man sich selbst zu Porzellan erklärt, das jederzeit kaputtgehen könnte. Diese Sakralisierung führt notgedrungen zu einer Körperfeindlichkeit. Die tritt heute schon offen zutage. Die Techgiganten, die wirklich offen davon träumen, dass man nur noch den Geist "uploaded" in eine Cloud, dieses sekuläre Jenseits ...

Man träumt von einer fast schon religiösen Körperlosigkeit, da der Körper eigentlich schmutzig sei, aber alles abseits der Religion. Wo sie sich Geistlichen hinter den Kulissen noch sündig ausgetobt hat, das gibt es jetzt nicht mehr. Man fühlt sich widerwärtig, schwer. Man will der Welt keinen Stempel aufdrücken. Im Gegenteil! Man sorgt sich um seinen ökologischen Fußabdruck. Dagegen schreibe ich in dem Buch an. Und das als jemand, der selbst immer wieder sehr mit seinem Körper gehadert hat. Dann aber habe ich zu Nietzsche gefunden. Der hat mich davon geheilt. Also, an alle jungen Mädchen, die sich in ihrem Körper nicht wohl fühlen: Hört auf zu heulen und lest Nietzsche. 

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Ihre Hauptfigur Aloisia hat eine schmerzfreie Kindheit. Im Katholizismus spielt der Schmerz eine wichtige Rolle auch in der Charakterbildung. Wie wirkt sich ein Leben ohne Schmerz aus?

Ich glaube, nicht so verheerend, wie die Katholiken meinen mögen oder ... Auf die Katholiken möchte ich hier allerdings nicht schimpfen. Das sind ja heutzutage noch die sympathischeren Zeitgenossen. Manche würden einem schmerzfreien Lebenslauf die gefürchteten Privilegien nachsagen, die einen zwangsläufig zu einem schlechten Menschen machen, der sich täglich geißeln sollte für das, was ihm unverdient in den Schoß gefallen ist. Was ich erstaunlich gehässig finde. Und unklug obendrein. Schmerz erzieht nicht unvermeidlich zur Tugend. Keinen Schmerz erfahren zu haben und sich darin glücklich zu wähnen, löst vielleicht auch das Bestreben aus, es anderen gleich ergehen zu lassen.

Es ist ein zweischneidiges Schwert, weil Schmerz – das stimmt schon – immer auch mit Erkenntnis einhergeht. Byung-Jul Hang hat ja dieses schöne Buch geschrieben über die Palliativgesellschaft. Ich bin der Meinung, eine Ausmerzung des Schmerzes führt in den Totalitarismus oder zumindest in eine derartig sedierte Gesellschaft, dass man nicht mehr von Leben oder Gesellschaft sprechen kann. Man sollte nicht ständig nach der Kränkung und dem Schmerz suchen, aber wenn er schon einmal da ist, ihn mit einem lustvollen Schaudern zulassen können.

Gott bewahre! Was fällt Ihnen dazu ein, Frau Eckhart?

Ich finde es schön, den Spruch so abzukürzen. Nur das "Gottbewahre" und "vor dem Bösen" wegzulassen. Denn ich denke immer öfter, er möge uns eher vor dem Guten bewahren.

„Jetzt sitzt man trotzig infantil auf seiner sogenannten ‚Identität‘
und klammert sich an sie wie an einen letzten Strohhalm, weil alles um einen unsicher wirkt“

Ihr neues Buch BOUM wird wie ein kurioses, postmodernes Kuddelmuddel angekündigt: Horror, Comic, Erotik, Video Game ... Weshalb diese Mélange?

Es ist recht eklektisch, weil das auch meinem Geschmack entspricht, weil auch meine Aufmerksamkeitsspanne als Leser sehr gering ist. Ich brauche sehr schnell einen Gattungswechsel, sonst verliere ich die Lust. Womöglich auch als Schreiber. Aber wie heißt es so schön im "Faust": "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus. Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!" Manche verschreien das als Ragout, aber ich liebe Hausmannskost. 

Sie mokieren sich über Identitätspolitik, indem Sie Journalisten in BOUM auf den ersten Blick absurde Fragen in den Mund legen: "Welche Rolle spielte die Ethnie Ihres Mörders für Sie als Opfer?" Es gibt aber tatsächlich Opfer, die vor Anzeigen zurückschrecken, wenn es sich um Täter mit Migrationshintergrund handelt. Ist Identitätspolitik inzwischen eine Gefahr für Leib und Leben?

Nein, für Leib und Leben nicht. Es sei denn, jemand ärgert sich so sehr über gewisse Auswüchse, dass er einen Herzschlag erleidet. Für vieles andere schon. Also für alles, was übers Überleben hinausgeht: Für Kultur ist es eine Bedrohung. Ich halte es zivilisatorisch für einen Rückschritt.

Inwiefern ist das ein zivilisatorischer Rückschritt?

Dass man sich wieder an ein Ich glaubt wie an einen kleinen Hausgott. Dass man sich selbst nur auf die Geburt beschränkt. Ob man jetzt als Frau oder mit einer gewissen Ethnie geboren wurde, wir haben es zum – wenn auch illusorischen – Ziel erklärt, dass all das keine Rolle spielen soll. Man wollte flüssige Identitäten, verdampfte Stände, wechselnde Geschlechter, offene Beziehungen und bekam dann im letzten Moment Angst. Jetzt sitzt man trotzig infantil auf seiner sogenannten "Identität" und klammert sich an sie wie an einen letzten Strohhalm, weil alles um einen unsicher wirkt. Ich ist ein anderer, sagte Rimbaud. So sollte man es halten. Das ist in jeder Hinsicht tröstlich. 

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