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Alasdair MacIntyre: Ständiger Sucher des tugendhaften Lebens

Der schottisch-amerikanische Philosoph trug wesentlich zur heutigen Wiederentdeckung der aristotelischen Ethik bei. Mit „After virtue“ schrieb er eines der wichtigsten tugendethischen Werke des 20. Jahrhunderts.
Philosoph Alasdair MacIntyre verstorben
Foto: Creative Commons | Für den Philosophen Alasdair MacIntyre braucht es daher Tugenden wie Geduld, Großzügigkeit oder Dankbarkeit, in denen wir diese wesentliche Abhängigkeit in den Beziehungen zu anderen anerkennen.

„In unserer Kultur ist ‚Philosophie‘ zum Namen für eine spezialisierte, professionalisierte akademische Disziplin geworden, und die Rolle des professionellen Philosophen ist sozial definiert und umrissen“, schrieb der schottisch-amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre Anfang der 2000er Jahre. Philosophie sei heute ein universitärer Beruf, den man ergreifen könne, wenn man die entsprechenden Qualifikationen erbringt und sich auf dem umkämpften Jobmarkt durchsetzt. MacIntyre sah dies durchaus kritisch, insofern das Philosophietreiben so Teil einer sozialen Rolle wird, die von anderen Rollen, die wir im Leben einnehmen, weitestgehend entkoppelt ist. Philosophie als Job, den man am besten im Büro lässt, wenn man abends zur Familie heimkehrt oder sich mit Freunden noch schnell auf ein Bier trifft.

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Für MacIntyre selbst war das anders. Nicht nur nahm er ernst, dass unser alltäglicher Diskurs über moralische und politische Fragen voll von impliziten philosophischen Annahmen und Begriffen ist, über die wir uns oftmals nicht oder nicht mehr im Klaren sind. Er gehörte zweifelsohne auch zu jenen Denkerinnen und Denkern, deren Auseinandersetzung mit der Philosophie sich in ihrem Leben insgesamt niederschlägt.

Vom Marxismus zu Aristoteles und Thomas von Aquin

MacIntyre, der 1929 in Glasgow geboren wurde und während der Great Depression in England aufwuchs, beschäftigte sich während seines Studiums der klassischen Philologie und Philosophie zunächst mit dem Marxismus und trat für kurze Zeit sogar der Kommunistischen Partei Großbritanniens bei. Seine philosophische Kritik an den Gräueln des Stalinismus und das Studium klassischer Autoren wie Aristoteles und Thomas von Aquin führten ihn jedoch dazu, seine Positionen anzupassen.

Im Jahr 1969 zog es MacIntyre als Hochschullehrer in die USA, wo er sich vom Marxismus distanzierte und begann, für ein aristotelisch-thomistisches Verständnis von Ethik und Politik zu argumentieren. In den 1980er Jahren konvertierte er schließlich zum Katholizismus. Der Lebensweg MacIntyres weist so, gerade in Hinblick auf die prägende Kraft der Philosophie, Parallelen zur Biografie einer anderen großen Philosophin und Konvertitin des 20. Jahrhunderts auf – Edith Stein, deren frühem Denkweg der schottisch-amerikanische Philosoph 2005 ein eigenes Buch gewidmet hat.

Das wohl bekannteste und einflussreichste Werk MacIntyres ist „After Virtue“ (deutsch: „Der Verlust der Tugend“) aus dem Jahr 1981. Es beginnt mit der Diagnose, dass unser Reden über moralische Fragen – sowohl im Alltag als auch in der Philosophie – heute mit Begriffen operiert, die einem philosophischen Denkrahmen entstammen, der spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung verloren gegangen ist. Das zeige sich daran, so MacIntyre, dass moralische Debatten in den meisten Fällen rational nicht abschließend entschieden werden könnten, da jeder moralische Standpunkt letztendlich auf einer subjektiven Festlegung zu beruhen scheint.

Menschliches Handeln als zielgerichtete Tätigkeit zur Verwirklichung eines Guts

Als Antwort auf dieses Problem entwickelt MacIntyre einen an Aristoteles orientierten Ansatz, der menschliches Handeln teleologisch begreift, das heißt als zielgerichtete Tätigkeit zur Verwirklichung eines Guts, dabei aber substanzielle Annahmen über die Natur des Menschen vermeidet. Stattdessen verweist MacIntyre auf soziale Praktiken beziehungsweise Gemeinschaften und narrative Einheiten wie die individuelle Biografie oder Traditionen. Tugenden, zum Beispiel Mut oder Gerechtigkeit, lassen sich dann als Eigenschaften begreifen, kraft derer wir diese Praktiken und Narrative erhalten beziehungsweise weiterführen und so die darin liegenden Güter verwirklichen können.

Mit diesem Ansatz gehört MacIntyre neben etwa Elizabeth Anscombe, Philippa Foot oder Martha Nussbaum zu jenen Philosophinnen und Philosophen, die maßgeblich zur heutigen Wiederentdeckung der aristotelischen Ethik beigetragen haben. Sein großes Verdienst besteht darin, dass er die Geschichtlichkeit und Sozialität des menschlichen Lebens ins Zentrum gestellt hat – zwei Kategorien, die in der angelsächsischen Philosophie des 20. Jahrhunderts sonst vergleichsweise wenig beachtet wurden.

Es spricht für MacIntyre, dass er den Ansatz von After Virtue fortwährend weiterentwickelt und in Teilen auch korrigiert hat. Das betrifft besonders seine These, dass ein Verständnis von Tugenden, moralischen Regeln oder Gütern ohne substanzielle Annahmen über die menschliche Natur auskommen könne. Es sind Phänomene der Verwundbarkeit und Krankheit, an denen MacIntyre letztlich erkennt, dass Moral auf die biologische Verfasstheit des Menschen Bezug nehmen muss. In ihnen zeigt sich, dass wir in allen Phasen des Lebens von anderen abhängig sind und nur durch ihre Hilfe ein gutes Leben führen können.

Einfluss weit über den Bereich der akademischen Philosophie hinaus

Für MacIntyre braucht es daher Tugenden wie Geduld, Großzügigkeit oder Dankbarkeit, in denen wir diese wesentliche Abhängigkeit in den Beziehungen zu anderen anerkennen. Mit dem Buch „Dependent Rational Animals“ von 1999 macht MacIntyre so einen wichtigen, wenn auch vorsichtigen Schritt in Richtung der Einsicht, dass die Ethik beziehungsweise Moralphilosophie nicht ohne ein Verständnis der menschlichen Natur auskommt.

Der Einfluss MacIntyres reicht jedoch weit über den Bereich der akademischen Philosophie hinaus. Besonders der Gedanke, dass Moral in sozialen Praktiken und Gemeinschaften als Teil konkreter Traditionen gelebt wird, hat in christlichen Kreisen durchaus Widerhall gefunden. So ruft MacIntyre selbst am Schluss von „After Virtue“ dazu auf, Formen von Gemeinschaft zu schaffen, in denen heute ein Verständnis moralischer und intellektueller Tugenden kultiviert und weitergegeben werden könne.

Hieran haben verschiedene christliche Akteure und Bewegungen wie der New Monasticism in den USA oder der Autor Rod Dreher mit seiner „Benedikt Option“ versucht anzuknüpfen, wobei sich MacIntyre von letzterer 2017 klar distanziert hat. Ihm gehe es gerade nicht, so erklärte er, um einen Rückzug aus der heutigen liberalen Gesellschaft, wie ihn Dreher empfiehlt, sondern um die Entwicklung neuer sozialer Formen, die es Menschen ermöglichten, ein gutes, tugendhaftes Leben zu führen. Jetzt ist Alasdair MacIntyre im Alter von 96 Jahren verstorben.


Der Autor studierte Philosophie in Leipzig, Köln und Leuven und promovierte zur Sozialphilosophie von Aristoteles und Thomas von Aquin.

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