Wer Nachrichten liest, hört, sieht, erfährt nur selten einmal alles. Doch eines weiß er auch so. Und das ganz genau: Die Welt präsentiert sich immer seltener so, wie sie es sollte. Krieg, Kriminalität, Korruption, wohin das Ohr sich neigt. Gewalt, Geiz, Gier, wohin das Auge sich auch wendet. Auch wenn Skandale wie "Katargate" und "Masken-Deals" mit erstaunlicher Regelmäßigkeit den Eindruck vermitteln, wir lebten in einer Kleptokratie - das Problem reicht tiefer. Sozialbetrug und Steuerhinterziehung haben beinah den Status von Volkssportarten erreicht. Und als wäre das noch nicht genug, wurden im vergangenen Jahr bundesweit 450 Bankautomaten gesprengt, 70 mehr als noch im Jahr davor.
Auch die Gewaltbereitschaft nimmt zu. Kaum ein Bus, eine Straßenbahn, ein Bahnsteig oder ein öffentlicher Platz, der nicht rund um die Uhr von Kameras überwacht würde. Von "No-Go-Areas", um die selbst Polizisten, wann immer möglich, einen Bogen machen, ganz zu schweigen. Selbst Rettungskräfte und Pflegepersonal werden immer öfter Opfer von Gewalt. Last but not least: Kaum jemand, der noch bereit wäre, seine Hand für die Rechtschaffenheit eines Anderen ins Feuer zu legen. Wie auch in einer Welt, in der selbst Bischöfe Meineide leisten und Priester sich an Schutzbefohlenen vergehen?
Die Welt ist im Wandel
Natürlich gilt trotz alledem: An sich stellen weder die Brüchigkeit der Welt noch die gefallene, der Sünde zuneigende Natur des Menschen eine echte Sensation dar, sind weder Sodom und Gomorrha noch die Sintflut neuzeitliche Phänomene. Und doch ist die Welt, um es mit dem katholischen Schriftsteller John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973) zu sagen, "im Wandel". Spüren wir es "im Wasser", "in der Erde", und riechen es "in der Luft". Ein merkwürdiger Fatalismus macht sich breit. Legt sich wie Mehltau über nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens und entfaltet eine lähmende Wirkung. Das war nicht immer so.
"Edel sei der Mensch, / Hilfreich und gut! / Denn das allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen, / die wir kennen." Derart optimistisch begann Johann Wolfgang Goethe (1749 1832) seine im Jahr 1783 verfasste Ode "Das Göttliche". Und geradezu euphorisch fuhr er fort: "Heil den unbekannten / Höhern Wesen, / Die wir ahnen! / Ihnen gleicht der Mensch! / Sein Beispiel lehr uns / Jene glauben."
"Niemals wieder" habe Goethe, befand der Historiker und Gründungsdirektor der Freien Universität Berlin, Friedrich Meinecke (1862-1954), der sich den Nationalsozialisten verweigerte, "die Sonderstellung des Menschen innerhalb des Naturzusammenhangs und gegenüber der unbeseelten Natur so herausgearbeitet - Menschlicher Adel beruht nach ihm vor allem doch wohl auf einer sittlichen Leistung."
Bewundern viele nicht Autokraten und Diktatoren?
Und heute? Müsste es da nicht heißen: "Clever sei der Mensch / Listenreich und skrupellos!"? Sprechen nicht Bestseller wie "Der Ehrliche ist der Dumme" (Ulrich Wickert) und "Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin" (Ute Ehrhardt) hier bereits eine beredte Sprache? Und bewundert nicht längst ein signifikanter Teil der Menschheit, insgeheim oder gar offen, wieder Autokraten und Diktatoren wie Donald Trump oder Wladimir Putin, die sich, ohne Rücksicht auf Recht und Verluste, zu nehmen suchen, wonach sie gelüstet?
Wenn "menschlicher Adel", oder anders formuliert, das "Gutsein", heute, anders als noch zu Zeiten Goethes, kein erstrebenswertes Ziel mehr ist, wenn niemand mehr beim Anblick von Menschen noch einen Gedanken an die mögliche Existenz höherer Wesen verschwendet, ja, wenn uns all das geradezu lächerlich und grotesk erscheint, dann ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme und eine ehrliche Analyse der Frage, wie es eigentlich dazu kommen konnte?
Eine interessante Antwort auf diese Frage findet sich bei Paul Valéry (1871-1945). Der französische Dichter und Philosoph befand bereits 1935 in einer Rede, die er vor der "Académie Française" hielt: "Tugend, meine Herren, dieses Wort Tugend ist tot oder liegt zumindest im Sterben. Von Tugend ist kaum noch die Rede. Den Geistern von heute stellt es sich nicht mehr als spontaner Ausdruck des Denkens über eine aktuelle Wirklichkeit dar. Es ist nicht länger einer jener naheliegenden Bestandteile des lebendigen Vokabulars in uns, deren Zugänglichkeit und Häufigkeit die tatsächlichen Bedürfnisse unseres Empfindungsvermögens und unseres Verstandes bekundet." Man könne "ganz sicher sein, ein ganzes Jahr lang leben und überlegen, handeln und nachdenken zu können, ohne auch nur ein einziges Mal die Notwendigkeit zu verspüren, es auszusprechen oder zu denken".
Er, so Valéry weiter, kenne "auch keine Zeitung, die es druckt oder die es - wie ich befürchte: ohne sich darüber lustig zu machen - zu drucken wagte". Inzwischen sei das Wort "Tugend", das, so Valéry weiter, "einst eines der mächtigsten und schönsten Wörter" gewesen sei, "fast nur noch im Katechismus und in der Posse, in der Akademie und in Operetten anzutreffen". Selbst wer nur zwei der vier Grundrechenarten beherrscht, ahnt, worauf dies hinauslaufen muss. Denn auch wenn laut einem Satz, der Aristoteles zugeschrieben wird, "das Ganze" tatsächlich mehr ist "als die Summe seiner Teile", so wird eben doch aus einer Ansammlung von Menschen, die weder die "Notwendigkeit" verspüren, das Wort Tugend "zu denken", geschweige denn es "auszusprechen", keine tugendhafte Gesellschaft.
Die "moralische Substanz" entscheidet über Wohl und Wehe
Das wäre nicht weiter schlimm, wenn eine funktionierende, freiheitliche Gesellschaft nicht genau darauf angewiesen wäre. Ein Dilemma, das der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019) einst auf die berühmte Formel brachte: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist." Das "Böckenförde-Diktum", von dem meist nur diese beiden Sätze zitiert werden, geht noch weiter. In dem Aufsatz "Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation", der erstmals 1967 in einer Festschrift für Ernst Frosthoff erschien, führt der spätere Verfassungsrichter aus: "Als freiheitlicher Staat" könne der Staat "einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und - auf säkularisierter Ebene - in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat." Mit anderen Worten: Die "moralische Substanz", der Grad der Tugendhaftigkeit der einzelnen Bürger, entscheidet, bei aller legitimen "Homogenität", letztlich über Wohl und Wehe, ja, mehr noch, über Gedeih und Verderb ganzer Staaten.
Wie eine Welt aussähe, in der sich die Menschen, die sie bevölkern, so verhielten wie Goethe es fordert - nämlich edel, hilfreich und gut -, bedarf keiner Illustration. Jeder besitzt sofort ein Bild von ihr. Und niemand, der bei gesundem Verstand ist, würde eine solche Welt ablehnen oder für nicht erstrebenswert halten. Auch dann nicht, wenn er zweifellos einräumen wird, dass sie, jedenfalls in Reinkultur, Utopie bleiben muss.
Wenn dem aber so ist, wie erklärt es sich dann, dass viele Menschen heute dennoch "Tugend" entweder als "Bravsein" bespötteln oder aber als "moralinsaure" Zumutung weit von sich weisen, statt in ihr etwas Erstrebenswertes zu erblicken, das für den Aufbau einer Gesellschaft, die gleichwohl präferiert wird, geradezu konstitutiv ist? Eine radikale, überaus zugespitzte, aber wohl nicht gänzlich falsche und jedenfalls bedenkenswerte Erklärung für diese geradezu paradox anmutende Entwicklung bietet der schottische, in den USA lehrende Philosoph Alasdair MacIntyre an. In seinem Buch "Der Verlust der Tugend - Zur moralischen Krise der Gegenwart" (engl.: "After virtue. A Study in Moral Theory") macht MacIntyre die Aufklärung dafür verantwortlich. Ihre Philosophen - MacIntyre nennt namentlich David Hume (1711 1776), Immanuel Kant (1724 1804) und Sören Kierkegaard (1813 1855) - hätten bei dem Versuch Schiffbruch erlitten, Tugend rein rational, ohne Rückgriff auf ein der menschlichen Natur innewohnendes Telos zu begründen. Dieses Scheitern habe zum Entstehen des sogenannten "Emotivismus" geführt, einer Theorie, derzufolge "alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen" seien. Obwohl der Emotivismus, wie MacIntyre zu zeigen versteht, falsch ist (die Aussage "dies ist richtig" meint etwas anderes als die Aussage "ich stimme dem zu"), sei der Emotivismus als Phänomen "in unsere Kultur eingegliedert worden". Mit dem Ergebnis, dass "moralische Meinungsverschiedenheiten" heute notwendig "rational endlos" verliefen, wie MacIntyre unter anderem am Beispiel der Abtreibung zeigt.
Wohin die Reise zu führen droht
Man braucht kein Prophet zu sein, um zu wissen, wohin die Reise führt, wenn moralische Urteile keine andere Geltung mehr beanspruchen können, als Ausdruck von persönlichen Vorlieben, Werthaltungen oder Gefühlen zu sein. Denn in allen diesen Fällen lässt sich weder ein Begriff wie der des Gemeinwohls noch sinnvoll denken, noch der des Wahren, Guten oder Schönen. Alles wird - noch dazu mit logischer Stringenz - zu einer ausschließlichen Frage des Betrachters. Mit der zynischen Pointe, dass im Meinungsstreit, der für ein demokratisches Gemeinwesen grundlegend ist, nicht jene obsiegen, die am plausibelsten und stringentesten argumentieren, sondern jene, die psychologisch versierter vorgehen, skrupelloser täuschen und rücksichtsloser agieren.
Niemand hat das besser verstanden als Friedrich Nietzsche (1844-1900), der im "Selbstlosen" und "Sich-selbst-Verleugnen" eine Anleitung zur "Selbst-Zerstörung" und in der "Nächstenliebe" die "Niedergangs-Moral par excellence" erblickte. "Verhasst" sind ihm daher die "guten Menschen", in der er die "Partei allen Schwachen, Kranken, Missratenen, An-sich-selber-Leidenden" erkennt; kurz all das, "was zugrunde gehen soll". Diese "Sklavenmoral", die aus dem Menschen ein widernatürliches Wesen gemacht habe, will Nietzsche durch die "Umwertung aller Werte" in die Luft sprengen. Gut sei allein, was stark macht. Böse alles, was schwach macht. So wird der Weg frei für den durch nichts mehr domestizierten "Übermenschen". Der "Übermensch" ist für Nietzsche erst der eigentliche Mensch, der "Sinn der Erde", wie er in "Zarathustras Vorrede" schreibt: "Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham."
Es ist denn auch kein Zufall, dass MacInytre das 9. Kapitel von "Der Verlust der Tugend" mit der Frage "Nietzsche oder Aristoteles?" überschreibt. Für Aristoteles (384-322 v. Chr.), den Vater der Tugendethik, standen sich, ähnlich wie später für Thomas von Aquin (1224-1274), das Gut des Einzelnen und das Gemeinwohl noch nicht feindlich gegenüber. Aus dem einfachen Grund, weil sich das Gut des Einzelnen, der auf Gemeinschaft angewiesen ist, erst im Gut des Ganzen erreichen lässt, darin enthalten ist und von diesem gefördert wird.
Soft skills sind dem Eigenwohl zuträglich
Doch zurück zum demokratischen Staat. Der kann sich, wenn Tugend, als habituell gewordenes Gutsein, nichts anderes mehr meint, als Ausdruck persönlicher Vorlieben, Werthaltungen oder Gefühle zu sein, nicht von vorneherein auf eine Seite schlagen. Er kann nur abwarten, bis der moralische Meinungsstreit sich in eine Richtung neigt und den psychologisch Versierteren als Sieger ausrufen, weil der es verstand, eine Mehrheit hinter sich zu versammeln.
So gesehen kann es auch nicht wundern, dass die Gesellschaft heute statt Tugenden - als da wären etwa Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß - "Soft skills" präferiert, welche für das Gemeinwohl wenig oder manchmal auch gar nichts leisten, dafür aber dem Eigenwohl zuträglich sind. Statt klug zu sein, gilt es etwa dann, Selbstvertrauen zu demonstrieren. Statt gerecht zu sein, auf Ausgleich bedacht zu wirken und niemanden zu übergehen. Statt maßvoll zu sein, gilt es, Willensstärke unter Beweis zu stellen, für deren Nachweis nicht selten ein Abo im Fitnessstudio reicht.
Ein Manager etwa, so könnte man exemplarisch die moralischen Anforderungen adressieren, die wir als Gesellschaft an andere stellen, sollte nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Rechtschaffen muss er deswegen noch lange nicht sein. Und sollte dies dem Gewinn der Aktionäre abträglich sein, so sollte er im eigenen Interesse auch darauf besser verzichten und stattdessen listig agieren. Nur einen Bierbauch, den sollte er sich unter keinen Umständen leisten. Das könnte ein schlechtes Licht auf das Unternehmen werfen, dem er "dient" und das ihn dafür meist fürstlich entlohnt. Ganz anders die Tugend. Durch sie kommt der Mensch, so sehen es zumindest Aristoteles und Thomas von Aquin, zu sich selbst, erreicht er sein Telos, sein Ziel, wird er zu dem, als der er gedacht ist, wird er "richtig". Eine zusätzliche Belohnung braucht der Tugendhafte nicht, ja mehr noch, er erstrebt sie nicht einmal. Das Gute getan zu haben, ans Ziel gelangt zu sein, ist ihm Belohnung genug. Eine vorteilhaftere Verbindung von Eigen- und Gemeinwohl lässt sich vermutlich nicht denken.