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"Wir sind nicht die Avantgarde"

Der Prager Erzbischof, Kardinal Dominik Duka, blickt auf die Ereignisse vor 30 Jahren zurück und zieht Bilanz über die Entwicklung sowie die gegenwärtige Lage seiner Kirche - nicht nur in Tschechien.
Veitsdom auf der Prager Burg
Foto: Alexander Brüggemann (KNA) | Der Prager Erzbischof Duka sieht die größte Herausforderung für die Kirche in Tschechien in der Katechese. Im Bild: Der Veitsdom auf der Prager Burg, das größte Kirchengebäude Tschechiens.

Herr Kardinal, woran denken Sie zuerst, wenn Sie sich an das Jahr 1989 erinnern?

Das waren für mich und viele andere Menschen in der Tschechoslowakei die schönsten Tage im Leben. Der erste Schritt war die Flucht der DDR-Einwohner auf das Gelände der deutschen Botschaft in Prag und ihre Ausreise von Prag in die Bundesrepublik. Ich war in diesen Tagen als Arbeiter der Škoda-Fabrik in Pilsen und wir sahen im deutschen Fernsehen diese Nachrichten aus Prag: Minister Genscher war auf dem Balkon des Lobkowitz-Palais. Da war für uns ganz klar: Der Kommunismus ist kaputt. Dass es am Ende aber so schnell gehen würde, konnten wir uns nicht vorstellen. Bereits an Weihnachten habe ich nach 15 Jahren erstmals wieder öffentlich die Messe konzelebriert und gepredigt – in der Dominikanerkirche in Prag. Und in der ersten Reihe saß Präsident Havel mit seiner Familie.

"Da öffneten wir die Türen der Kirche,
die zum Asylraum wurde: Wer es
in die Kirche schaffte, war gerettet"

Was bedeutete 1989 für die katholische Kirche?

Am 12. November 1989 wurde Agnes von Prag heiliggesprochen und nach 40 Jahren wurde das erste Mal eine Zeremonie aus dem Vatikan im tschechoslowakischen Fernsehen übertragen. Zudem wurden die Heiligsprechungsfeierlichkeiten in Rom zu einem Treffen Geistlicher aus der Tschechoslowakei mit Vertretern der Emigration. Fünf Tage später tagte in Prag die Superiorenkonferenz in der St.-Ursula-Kirche und draußen auf der Nationalgasse demonstrierten Zehntausende Studenten gegen die Regierung. Natürlich gingen die Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten vor. Da öffneten wir die Türen der Kirche, die zum Asylraum wurde: Wer es in die Kirche schaffte, war gerettet. Die Situation in diesen Tagen war gefährlich, da auch ein Eingreifen der sowjetischen Armee drohte. Aber Kardinal František Tomášek unterstrich am 26. November in seiner Predigt im Veitsdom: „In dieser wichtigen Stunde des Kampfes für Wahrheit und Gerechtigkeit in unserem Land stehen ich und die katholische Kirche auf der Seite des Volkes!“

Welche Unterstützung erfuhren Sie in den Jahren des Aufbruchs von Geschwistern aus dem Westen Europas?

Vor allem muss man an Kardinal Meisner erinnern. Was hat er nicht alles für uns getan – sowohl in seiner DDR-Zeit, aber auch in seiner Kölner Zeit? Nach der Wende war er Mitglied in den Gremien von Renovabis und hat sich für die Arbeit von Kirche in Not eingesetzt. Das ist ein historisches Verdienst! Nach der Wende wurde die Kirche nach dem deutschen Modell gestaltet. Das hatte freilich zwei Probleme: Wir sind nicht so akribische Bürokraten wie die Deutschen, sondern stehen eher unter dem Einfluss der slawischen Improvisation. Zudem sind wir nicht so eine große und mächtige Kirche wie in Deutschland und Österreich. Aber man muss sagen: 80 Prozent der finanziellen Hilfe, die wir damals erhalten haben, sind aus dem deutschsprachigen Raum gekommen: Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das hängt natürlich auch mit unserer gemeinsamen Geschichte zusammen.

Kardinal Dominik Duka
Foto: Harald Oppitz | Kardinal Dominik Duka, Erzbischof von Prag.

Wie gestaltet sich heute der Kontakt zur katholischen Kirche in Deutschland?

Es gibt regelmäßig gemeinsame Sitzungen mit der Freisinger Bischofskonferenz. Jedoch spüre ich die Notwendigkeit, mehr Kontakte mit den ostdeutschen Bistümern zu pflegen. Leider haben wir die früher engen Beziehungen nach Ostdeutschland inzwischen verloren. Nach der Wende war die westliche Welt für uns interessanter als die früher sozialistischen Gebiete. Aber wir brauchen die Kontakte mit den ostdeutschen Bistümern, denn wir haben gemeinsame Erfahrungen aus der kommunistischen Zeit.

"Ich bin überzeugt: Das Problem ist
die Katechese, besonders der Kinder
in den Vorschulen und Schulen"

1989 ging es für die Kirchen um die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. Wo sehen Sie heute die großen Herausforderungen für die Kirche in Tschechien?

Ich bin überzeugt: Das Problem ist – aus der Perspektive meiner Heimat – die Katechese, besonders der Kinder in den Vorschulen und Schulen. Aber auch in den Universitäten ist es wichtig, dass wissenschaftlicher gearbeitet wird. Wir sagen, wir leben in einer post-modernen, post-optimistischen Gesellschaft. Das Problem ist, dass das Niveau der Naturwissenschaften angestiegen ist, aber die humanistischen und philosophischen Fakultäten haben den wissenschaftlichen Weg verloren. Es geht nur noch um Erlebnis und Emotionen, aber so geht das nicht weiter. Und das ist auch eine Gefahr für die Theologie. Was wir brauchen, ist mehr wissenschaftliche Theologie – in Kontinuität zur Tradition, aber auch in lebendiger Auseinandersetzung mit den Problemen von heute. Dabei gilt es, die große Gefahr der Ideologisierung und des falschen Dogmatismus auszubremsen. Diese herrschen in allen Bereichen der Wissenschaft – nicht nur in der Theologie.

"Es gibt Kirchen, die treuer zur
Bibel stehen, und solche, die
weniger treu zur Bibel stehen"

Welche Ideologien haben Sie hier besonders im Blick?

Das gilt vor allem für die Gender-Ideologie. Leider gibt es keinen Dialog. Es gibt nur einen Streit, in dem jeder seine Wahrheit hat und sagt: „Es gibt keine Wahrheit, aber meine Wahrheit gilt absolut.“ Auf der theologischen Ebene ist die Auseinandersetzung nicht einfach. Es gibt Kirchen, die treuer zur Bibel stehen, und solche, die weniger treu zur Bibel stehen. Heute gilt Tschechien als eines der säkularsten Länder in Europa.

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Wie stellt sich dies für Sie aus der Innenperspektive dar?

Das 20. Jahrhundert war für die Kirche in meiner Heimat – metaphorisch gesagt – die Zeit der Genozide: Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte die Gründung der Tschechoslowakischen Kirche, der heutigen Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche, durch modernistische katholische Priester; ein Viertel der Tschechen trat dieser Kirche bei. Und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit den Sudetendeutschen ein Viertel der Katholiken weggeschickt. Das war für die Kirche ein großes Problem. Die Diözese Leitmeritz etwa verlor 70 Prozent ihrer Priester, Prag 40 Prozent. Das war eine Katastrophe. Und nach drei Jahren kam die kommunistische Diktatur mit der beabsichtigten Liquidation der Kirche.

So entstand eine starke säkulare Prägung. Tomáš Halík hat dahingehend Recht, dass der Glaube unseres Volkes ein „Etwassismus“ ist, der Glaube, dass etwas über uns existiert. Wenn wir in der klassischen Philosophie zuhause sind, wissen wir, dass dies die erste Erkenntnis der Existenz Gottes ist. Aber wer ist Gott? Das ist keine Projektion des Menschen, sondern etwas ganz anderes: die Transzendenz. Und in diesem Sinne ist das das Hauptfundament für die Neuevangelisation, die Reevangelisation – aber dafür brauchen wir auch die echte Philosophie.

"Seit wir Universitätsseelsorge in den
großen Städten haben, haben junge
Familien zur Kirche gefunden und sind
praktizierende Katholiken geblieben"

Wie genau gestaltet sich die Neuevangelisation in Tschechien?

Aus Wien haben wir das Projekt einer „Nacht der Kirchen“ übernommen, es gibt auch die „Nacht des Nikodemus“. Zudem gibt es eine Glaubenswoche mit Neuevangelisation auf Straßen und Plätzen. Man muss sagen: Das ist ein Erfolg. Zudem ist in Tschechien ein Kooperationsmodell entstanden, das Militärkaplane, Kaplane in Gefängnissen, Krankenhäusern und bei der Polizei ermöglicht. Zudem gibt es Seelsorger an den Universitäten. Jede Hochschule hat eine eigene Kathedrale, die sich an ein Publikum aus Kultur und Wissenschaft richtet. Seit wir Universitätsseelsorge in den großen Städten haben, haben junge Familien zur Kirche gefunden und sind praktizierende Katholiken geblieben. Daher ist der Besuch der Sonntagsgottesdienste – auch über den Generationenwechsel hinweg – stabil. Was für uns auch wichtig ist, ist die Caritas. Diese erfuhr eine große Hilfe aus Deutschland, nicht nur finanziell, sondern auch mit Know-how. Entscheidend ist die Zusammenarbeit zwischen der Katholischen Hochschule Freiburg und der Theologischen Fakultät der Universität Olmütz. Inzwischen sind wir imstande, selbst zu helfen: in Afrika, Asien und Lateinamerika.

"Das Hauptproblem der Kirche
in Europa ist die Familie"

Lassen Sie uns daher zum Schluss den Blick auf die Weltkirche hin weiten: Vor welchen Herausforderungen sehen Sie – aus ihrer mitteleuropäischen Perspektive – den Katholizismus in Europa und der Welt?

Das Hauptproblem der Kirche in Europa ist die Familie. In diesem Sinne müssen wir etwas machen, nicht nur kritisieren, sondern wirklich etwas tun für die Unterstützung der Familien, auch für die Erziehung der Kinder für das Leben in der Familie. Davon bin ich überzeugt. Auf der Ebene der Weltkirche müssen wir mit Demut sagen, dass wir europäischen Diözesen gegenwärtig nicht die Avantgarde sind. Aber wir sollten das nicht beweinen und darüber jammern, sondern müssen zeigen, dass die Kirche in Europa auch die europäische Kirche ist. Zwar kommt der lateinamerikanische Papst Franziskus aus Buenos Aires, einer Hauptstadt mit einer starken europäischen Kultur in Lateinamerika. Aber die Kirche muss auch in Europa wirklich die Kräfte und Inspirationen aus dem europäischen Erbe und der Geschichte schöpfen. Wenn wir die Geschichte der Kirche in Europa studieren, gewinnen wir viele, viele Erfahrungen, die auch eine Inspiration für die Situation von heute sind.

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