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Andreas Speer: "Thomas unterrichtet sich leicht"

Andreas Speer, Direktor des Thomas-Instituts der Universität zu Köln, empfiehlt, den Aquinaten zu lesen und von dessen Wissenschaftsverständnis zu profitieren.
Andreas Speer, Direktor des Thomas-Instituts der Universität zu Köln
Foto: Matthias Drobeck | "Thomas ist niemals aufgetreten mit dem Anspruch, die alleinseligmachende Wahrheit zu verkünden, sondern er hat den Diskurs akzeptiert", meint Andreas Speer, Direktor des Thomas-Instituts der Universität zu Köln.

Herr Professor Speer, was ist dran an Chestertons These, dass Thomas von Aquin der Philosoph des gesunden Menschenverstandes sei?

Einiges, weil Thomas die praktische Vernunft in hohem Maße schätzt. Er akzeptiert, dass die menschliche Vernunft endlich und gebunden ist an die Vorstellungsbilder, die uns unsere Sinne und unsere Interaktion mit der Welt bietet. Dazu kommt, dass Thomas ein großer Pragmatiker ist und nach Lösungen sucht, die Menschen dienlich sind. Er ist überhaupt kein Ideologe oder Extremist.

Stichwort Pragmatismus: Worauf gründet konkret der Ruf des Thomas, antike Philosophie und christlichen Glauben miteinander versöhnt zu haben?

Thomas lebt zu einer Zeit, die sich durch eine umfassende Neuentdeckung philosophischer Quellen auszeichnet. Diese Quellen waren seit der Antike den Lateinern verborgen und nicht übersetzt worden. Von der Mitte des zwölften Jahrhunderts bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts setzt eine große Übersetzungsbewegung ein, durch die der gesamte Aristoteles zusammen mit den spätantiken und arabischen Kommentaren auf einmal zugänglich wird. Für Aristoteles war Philosophie und Wissenschaft im Grunde genommen ein und dasselbe. Damit setzt sich Thomas ganz besonders auseinander. Und zugleich tut er das natürlich auch als Theologe. Er ist sozusagen Philosoph und Theologe.

Welche Konsequenzen hat das?

Zum einen ist er der festen Überzeugung, dass sich die Theologie auch als Wissenschaft behaupten muss. Das heißt, die Universitäten, die entstehen, sind ein Seelsorgeraum und zugleich ein intellektueller Raum, in den die Theologie eintreten muss. Und sie muss das als Partner tun: also nicht belehrend, sondern, indem sie die Regeln akzeptiert, die es dort gibt. Dafür macht er sich stark. Er versucht auch, wissenschaftliche Vernunft und christlichen Glauben zusammenzudenken. Beides bildet für ihn keinen Gegensatz. Das können wir von ihm lernen. Thomas ist derjenige, der die Herausforderung, den christlichen Glauben vernünftig zu vermitteln und zu begründen, als die seine begreift - vielleicht noch radikaler als alle seine Zeitgenossen. Er versucht, daraus auch ein Programm zu machen, die Theologie an den Universitäten neu aufzustellen und sie auch als Wissenschaft zu etablieren. Mit dem Sentenzenkommentar, der Summa contra gentiles und der Summa theologiae hat er versucht, Theologie neu für die Zeit zu buchstabieren. Er hat sich mit den Herausforderungen seiner Zeit offensiv auseinandergesetzt.

"Thomas versucht auch, wissenschaftliche Vernunft
und christlichen Glauben zusammenzudenken.
Beides bildet für ihn keinen Gegensatz"

Die Grundsätze, Methode und Lehre des Thomas sollen von Theologie- und Philosophieprofessoren heilig gehalten werden, schrieb Papst Pius XI. vor hundert Jahren zum Jubiläum der Heiligsprechung. Wie sehen Sie das?

Thomas ist niemals aufgetreten mit dem Anspruch, die alleinseligmachende Wahrheit zu verkünden, sondern er hat den Diskurs akzeptiert. An den Universitäten wurde zu seiner Zeit heftig diskutiert. Diesen Debatten hat sich Thomas gestellt. Er fand - das kann man sehen - auch Vergnügen daran, Kontroversen mit den besseren Argumenten zu lösen. So setzte er sich beispielsweise differenziert mit der Mystik auseinander und widersprach auch seinem Lehrer Albert.

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Welchen Ansatz können wir in einer Zeit, in dem Wissenschaftler mitunter den freien Diskurs vermissen - etwa durch Vorgaben der Woke-Bewegung - von Thomas übernehmen, um der Überreglementierung im universitären Bereich zu entgehen?

Thomas würde allen, die im universitären Raum miteinander sprechen, empfehlen, sich über Regeln der Logik, der Gültigkeit und der Schlüssigkeit zu verständigen - und sich allein der Suche nach Erkenntnis verpflichtet zu fühlen. Er dachte nicht nur an die Prinzipien der Wissenschaftstheorie nach Aristoteles, sondern auch an persönliche Tugenden: Aufrichtigkeit,  Wahrheitssuche ohne strategische Hintergedanken. Ich würde mich freuen, wenn  die Texte des Thomas auch von denen, die sie anpreisen, mehr gelesen würden. Denn für Thomas gibt es keine Wissenschaft ohne Wahrheit. 

"Thomas würde allen, die im universitären Raum
miteinander sprechen, empfehlen, sich über Regeln der Logik,
der Gültigkeit und der Schlüssigkeit zu verständigen -
und sich allein der Suche nach Erkenntnis verpflichtet zu fühlen"

Sie haben einmal geschrieben, dass die Summa theologiae eigentlich als Einführung geschrieben worden sei. Ist sie das je gewesen?

Thomas hat die Summa als ein didaktisches Werk "für Anfänger" konzipiert. Man muss sie im Vergleich zu den Sentenzen sehen: Das sind Sammlungen von dogmatischen Lehrsätzen in systematischer Form. Zu 90 Prozent sind es Lehrsätze der Kirchenväter, vor allem von Augustinus. Das war gewissermaßen das Textbuch der Theologiestudenten an den Universitäten. Wie kompliziert diese Debatten dann geworden sind, sieht man am Umfang der Sentenzen-Kommentare. Die Summa theologiae hat er für seine Dominikaner-Studenten geschrieben, nicht nur für Wissenschaftler. Seine Studenten wurden auch für die Seelsorge und die Predigt ausgebildet. Er versucht, etwas Kompaktes zu schaffen, in dem er sich auf das Wesentliche beschränkt und die Nebenschauplätze weglässt. Das Buch erfüllt den Anspruch, ein neues Kompendium der gesamten Theologie zu sein. Jedoch benötigt man  für die teilweise komplizierten Texte einen guten Lehrer. Thomas traut also den Anfängern eine Menge zu und mutet ihnen auch viel Denkarbeit zu. Das ist ziemlich charakteristisch für ihn.

Worin liegt der Lesegewinn der Summa?

Thomas zeigt, wie man eine Frage methodisch aufdröseln kann und strukturiert darstellt. Es werden Pro- und Contraargumente gesammelt. Wir würden heute sagen: Die Forschungsdiskussion wird erst einmal vernünftig dargestellt, um dann eine Antwort zu entwickeln. Von Thomas kann man somit sehr viel lernen. Thomas unterrichtet sich auch leicht, weil er diejenigen, die mit seinen Texten arbeiten, hineinnimmt und ein Modell vorgibt, wie man wissenschaftlich mustergültig argumentiert. Wir erleben heute Diskussionen, bei denen sich Autoren selbst in den Mittelpunkt stellen und meinen, dass sie keine Gesprächspartner nötig haben, um selbst die perfekte Antwort zu geben. Thomas denkt das nie. Er setzt sich auch intensiv mit den großen arabischen Gelehrten Averroes (1126-1198) und Avicenna (980-1037) auseinander.

Hat sich Thomas - bei aller Dialogfreude - auch als Korrektiv verstanden und abgegrenzt?

Ja, er hat Glaubensinhalte verteidigt. Wenn man wirklich Christ sein will, dann muss man schon aus intellektuellen Gründen bestimmte Glaubensartikel akzeptieren. Da würde er keine Abstriche machen und vielmehr sagen: Sonst bist Du eben etwas anderes. Zur Gesprächsbereitschaft gehört nicht, seine Meinung aufzugeben, sondern man sollte sie klar und scharf formulieren und auch verteidigen können.

Wie bewusst ist den Theologen heute, welchen Schatz das Erbe des Thomas darstelle?

Ich würde mich freuen, unter Theologen und an theologischen Fakultäten mehr Verbündete zu haben. Das Bewusstsein für die Bedeutung des historischen Erbes ist in den letzten Jahren ziemlich zurückgegangen. Das finde ich auch persönlich bedauerlich, aber ich habe ja denselben Kampf auch im Bereich der Philosophie zu fechten. Theologie und Philosophie sind ohne ihre Geschichte blind und erfassen ihre Begriffe nicht richtig. Wenn wir unsere Geschichte nicht angemessen verstehen, dann verstehen wir auch die Probleme der Gegenwart nicht angemessen. Dafür muss ich auch streiten.


Lesetipp:
Andreas Speer: Thomas von Aquin - Die Summa theologiae, Werkinterpretationen, de Gruyter, Berlin 2005
Anthony Kenny: Thomas von Aquin, Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1999.
Albert Zimmermann: Thomas lesen (legenda 2), frommann-holzboog, Stuttgart 2005.
Marie-Dominique Chenu: Die Theologie als Wissenschaft im 13. Jahrhundert (Collection Chenu 4), Ostfildern 2008.

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