Die in der Kirche zum Hirten Berufenen sollen sich noch mehr unter die Schafe mischen. So wünscht es Papst Franziskus. Seine Begründung: Wenn die Hirten nicht den Geruch der Schafe annähmen, liefen sie Gefahr, den Kontakt zu ihnen zu verlieren. So weit, so klar. Leider verrät der Heilige Vater aber nicht, um welche Schafe es ihm dabei geht. Um die verirrten oder um jene, die sich scheinbar bereitwillig hüten und leiten lassen? Natürlich spricht viel dafür, dass ein Papst, der das Schiff Petri dazu aufruft, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen, eher Erstere im Blick hat.
Zweites Vatikanische Konzil versus Grundgesetz?
Bedauerlicherweise stellen Hirten aber, die so verfahren, kaum jemanden zufrieden. Beispiel: § 218 StGB. Wer als Katholik beispielsweise die Stellungnahmen des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz aufmerksam verfolgt, kann unmöglich zu dem Schluss kommen, die Bischöfe
behandelten das Thema irgendwie stiefmütterlich. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Und doch stellen die Wortmeldungen der Bischöfe kaum jemanden zufrieden.
Die verirrten Schafe sind empört, weil die Frontleute einer in Missbrauch-Skandale verstrickten Kirche es wagen, öffentlich den Schutz des Lebens ungeborenen Kinder anzumahnen. Die sich brav wähnenden Schafe, die wissen, dass der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlen keine Domäne der katholischen Kirche ist, sondern in Familien, Schulen, Sportvereinen et cetera weit häufiger vorkommt, sind nicht minder empört, weil „ihre“ Hirten, die Sprache der Säkularen bemühen und statt von „verabscheuungswürdiges Verbrechen“ (Zweites Vatikanische Konzil) und „schwerer
Sünde“ zu sprechen, es vorziehen, das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Anschlag zu bringen.
Die vielfältigen Aufgaben des „guten Hirten“
Was also tun? Folgt man dem Evangelium, ist der „gute Hirte“ verpflichtet, den verlorenen Schafen nachzusteigen. Dazu muss er die Herde zeitweise allein lassen. In solcher Mission unterwegs ist er gut beraten, auch die Sprache der verirrten Schafe zu sprechen. Denn wer die Existenz Gottes
ablehnt oder in Frage stellt, dem ist nicht geholfen, wenn ihm erklärt wird, dass nur Gott „Herr über Leben und Tod“ ist und der Mensch sein Abbild ist, mit dem er einen Plan verfolgt, der immer dort durchkreuzt wird, wo ein Menschenleben, anstatt beizeiten friedlich zu erlöschen, vor der Zeit gewaltsam vernichtet wird.
Zu den Aufgaben der Hirten gehört aber auch, die bei der Herde gebliebenen Schafe zu weiden und die Brüder und Schwestern stärken. Und dafür eignen sich Rekurse auf das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so überhaupt, eben nur sehr begrenzt.
Mehr Wohlwollen und Verständnis nötig
Was es braucht, ist mehr Wohlwollen und Verständnis auf allen Seiten. Die bei der Herde gebliebenen müssen besser verstehen lernen, dass ihre Hirten mit einer durch und durch säkularen Welt anders kommunizieren müssen, als sie dies etwa auf einem Pfingstzeltlager katholischer Pfadfinder könnten. Und die Hirten müssen besser verstehen lernen, dass die Herde mit Recht „fremdelt“, wenn sie nicht immer wieder mal auch andere Töne anschlagen.
Es gilt also, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Sich mit einem zu bescheiden zu wollen, ist nicht genug. Keine Frage: Zwischen allen Stühlen lebt es sich meist unbequem. Aber ein bequemes Leben hat Christus auch niemandem versprochen. Den Schafen nicht und ihren Hirten schon gar
nicht. Nachfolge Christi heißt immer auch: Stets bereit zu sein, die eigene Komfortzone zuverlassen. Dazu gehört dann freilich auch, sich von Begrenzungen nicht den Frieden rauben zu lassen. Weder von den eigenen, noch von denen der anderen. Denn Gott vermag, wo wir uns ihm
zur Verfügung zu stellen, auch auf krummen Zeilen gerade zu schreiben.
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