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Jasmine Dum-Tragut: „Armenien hat wieder eine christliche Oberfläche“

Das jahrhundertealte christliche Kulturgut in Karabach darf nicht untergehen, fordert Jasmine Dum-Tragut, Leiterin der Armenischen Studien am „Zentrum zur Erforschung des Christlichen Ostens“ der Universität Salzburg.
Kloster Dadivank
Foto: Jasmine Dum-Tragut | Kloster Dadivank

Frau Dum-Tragut, zwei Apostel missionierten unter den Armeniern; der armenische König Trdat III. nahm das Christentum vor dessen Legalisierung im römischen Reich als Staatsreligion an. Wie tief prägt der christliche Glaube die Armenier und ihr Identitätsbewusstsein?

Die armenisch-apostolische Kirche beruft sich auf die Mission der Apostel Bartholomäus und Thaddäus, die das Christentum nach Armenien gebracht haben und dort den Märtyrertod fanden. Der Überlieferung nach starb Thaddäus um 68 im heutigen Nordiran. An dieser Stelle wurde das Thaddäuskloster errichtet, das einer der berühmtesten Pilgerorte der Region ist, und seit 2008 UNESCO-Weltkulturerbe.

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Bartholomäus predigte im historischen Armenien und starb den Märtyrertod um 66 in Vaspurakan am Vansee, in der heutigen Türkei. König Trdat III., der vor seiner Bekehrung durch Gregor den Erleuchter ein Anhänger der iranischen Götterwelt und Christenverfolger war, ließ sich 301 taufen und befahl, dass sein Königreich den christlichen Glauben annehmen solle. Demzufolge ist das historische Armenien der erste offiziell christliche Staat der Welt, auch wenn der Forschung nach die Bekehrung des Königs zehn Jahre später stattfand.

Das Bewusstsein, der älteste christliche Staat zu sein, aber über Jahrhunderte keine Eigenstaatlichkeit gehabt zu haben, hat die armenische christliche Mentalität und Widerstandsfähigkeit geprägt. Die armenische Kirche stellte in diesen Zeiten nicht nur die geistliche Führung, sondern vor allem die politische. In den Augen der armenischen Kirche ist der christliche Glaube ein Teil der armenischen Identität. Nach den neuen Gesetzen der Republik gilt als Nachweis des Armeniertums, neben dem Nachweis armenischer Vorfahren auch die Taufurkunde der armenisch-apostolischen Kirche.

Jahrzehnte unter der Sowjet-Diktatur haben das Land geprägt. Wie überlebte der Glaube unter den Armeniern?

Der Glaube hat die schrecklichsten historischen Ereignisse der letzten Jahrhunderte überlebt, die Kirche als Institution ging im Siedlungsgebiet der Armenier in den 1920er Jahren durch den Genozid und dann durch die sowjetische, atheistische Indoktrinierung fast zu Grunde. Es ist dem starken Willen mancher Kirchenführer, aber vor allem der Frömmigkeit der Armenier zu verdanken, dass dies nicht geschah.

Der Genozid hat der armenischen Kirche und dem Glauben weniger zugesetzt als die Jahrzehnte des sowjetischen Atheismus. Dieser ist im heutigen Armenien noch zu spüren, daneben aber auch der tief verwurzelte Glaube im Volk. Der Glaube ist geblieben, häufig in einer unwissenden Form. Erst in den letzten Jahrzehnten gelang es durch den Eifer der Kirche, Wissen über den christlichen Glauben, über die eigene Tradition und die eigene Kirche wieder unters Volk zu bringen. Gleichzeitig hat Armenien einen ungeheuren Zulauf an evangelikalen und charismatischen Gruppen.

Prägt der Glaube das Land oder ist das Bekenntnis zum Christentum eher ein kulturelles und historisches Zeugnis?

Die Gesellschaft ist säkularisiert. Wenn ich, die ich seit 1988 in Armenien arbeite, zurückblicke, hat sich im Verständnis der Kirche zur Gesellschaft viel gewandelt. Dazu kommt, dass das Land wieder eine „christliche Oberfläche“ bekommt, nicht nur durch die unzähligen Kirchen und Klöster, die renoviert werden. Sondern auch in der Ethik und im Verhalten der Menschen. Dennoch ist es nicht so, dass das Land homogen armenisch-apostolisch ist. Sehr viele Armenier sind nicht getauft.

Sie wurden vom Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, Katholikos Karekin II., als Beraterin ans „Mother See of Holy Etchmiatzin? Office for Artsakh Spiritual-Cultural Heritage Issues“ aufgenommen. Was ist das Ziel dieses Instituts und welche Aufgabe haben Sie?

Die Aufgabe dieses Büro ist es, das armenische Kulturerbe in Karabach zu bewahren. Dazu zählen nicht nur die materiellen Kulturgüter, also unzählige Kirchen, Klöster und christlichen Pilgerstätten, sondern auch, den glaubenden Menschen den Zugang zu ihren heiligen Stätten zu ermöglichen. Das ist derzeit nicht der Fall. Durch das Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Karabach vom 10. November 2020 sind große Gebiete Karabachs nun unter aserbaidschanischer Verwaltung. Sie sind mutwilliger Vandalisierung und Zerstörung ausgesetzt.

Wir bemühen uns, der Welt Informationsmaterial bereitzustellen, Vorträge und Konferenzen zu veranstalten, mit internationalen Kulturgüterschutz-Institutionen wie der UNESCO, Blue Shield und ökumenischen Verbänden zusammenzuarbeiten. Um eine friedliche Lösung dafür zu finden, dass in Aserbaidschan und Karabach der armenisch-christliche Glaube weiter bestehen darf und das jahrhundertealte Kulturgut nicht verloren geht. Das ist eine erschöpfende, leider oft deprimierende Aufgabe.

Welche Bedeutung hat Karabach für die armenische Kultur und Tradition?

Die richtige Bezeichnung für diese Region ist Artsach. Das ist der historische Name, der seit Jahrhunderten überliefert ist und erst unter den Fremdherrschern im 16. Jahrhundert zum türkisch-persischen Karabach („schwarzer Garten“) wurde. Die bis 2020 unabhängige Republik heißt „Artsach“. Diese südkaukasische Region wurde früh von Armenien besiedelt und in armenische Königreiche eingeschlossen.

Sie war das östlichste armenische Siedlungsgebiet im Kaukasus. Auch hier hat das Christentum durch Gregor den Erleuchter und seinen Enkel Grigoris Fuß gefasst. Viele wissen nicht, das Karabach eine frühchristliche Region ist, mit Kirchen und Klöstern aus dem 5. bis 7. Jahrhundert. Karabach war immer ein Zentrum des Widerstands gegen Fremdherrscher und ein kulturelles, eigenständiges kleines Stück Armenien in einer gebirgigen, grünen, zum Teil unzugänglichen Natur.

Hat der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um diese Region eine religiöse und zivilisatorische Dimension?

Es ist ein territorialer und ethnischer Konflikt. In der gesamten Region, in Armenien, dem Nordiran und Karabach haben über Jahrhunderte Armenier, iranische Völker und Tataren neben- und miteinander gelebt. Erst mit der künstlichen Schaffung der Sowjetunion und der unglücklichen Grenzziehung zwischen den neu geschaffenen Sowjet-Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan gerieten sowohl das armenisch besiedelte Nachitschevan als auch Karabach in das „Republiksgebiet“ von Aserbaidschan.

Das hat von Anfang an Unmut und Unruhe geschaffen, der Völkerkochtopf auf dem südkaukasischen Herd hat lange vor sich hingeköchelt, manchmal schwappte etwas über, aber erst gegen Ende der 1980er Jahre ging der Deckel hoch, und der Topf kochte über. Das ist ein territorialer Konflikt, der auch die Kultur betraf, und manchmal auf dem Rücken der Religion ausgetragen wurde. Es ist kein religiöser Konflikt, und Religion sollte hier auch nicht instrumentalisiert werden.

Sind die Spannungen mit Ankara und Baku also nur politisch und historisch, oder doch auch religiös motiviert?

Diese Spannungen sind auf beiden Seiten politisch, territorial motiviert. Religion spielt weder als Auslöser der Spannungen noch als Thema eine Rolle. Wobei die Frage nach den ideologischen Gründen des jüngtürkischen Genozids im Osmanischen Reich an Armeniern, Griechen, Ost- und Westsyrern natürlich auch die Frage der Religion ins Spiel bringt. Dass die Religion, besonders hier in der ethnisch-kulturellen Identifikation von den Konflikten betroffen ist, ist unvermeidbar und offensichtlich.

Was könnte Westeuropa von der Spiritualität der armenischen Kirche lernen?

Die Traditionen des armenischen Christentums, vor allem die Liturgie, sind anders. Für uns mystischer, erhabener, feierlicher. Die armenische Kirche hat weder eine europäische Aufklärung noch ein Zweites Vatikanum durchlebt. Die Traditionen sind archaisch, zum Teil erscheinen sie uns mystischer. Die Mystik hat in der armenischen Kirche traditionell große Bedeutung. Vielleicht ist ein durchschnittlicher Mitteleuropäer, der eine steinerne, wenig geschmückte mittelalterliche Kirche betritt, von dieser Schlichtheit, vom Spiel des durch kleine Fensteröffnungen eintretenden Lichts, durch die in den Kirchen angezündeten Kerzen berührt. Dennoch, ich betrachte Spiritualität als etwas Individuelles, das unabhängig ist von einer Kirche. Spiritualität ist in mir, ein Ausdruck meines Glaubens, vielleicht auch meines Zwiegesprächs mit Gott.

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Wie ist der Stand der ökumenischen Kontakte zwischen der armenisch-apostolischen Kirche und der katholischen Kirche?

Die heutige armenisch-apostolische Kirche unterhält sehr gute Beziehungen zur römisch-katholischen Kirche, auch auf höchster Ebene. Karekin II., Katholikos aller Armenier, unterhält besonders gute Beziehungen zum katholischen Klerus in Österreich und Bayern, da er viele Jahre in diesen Ländern studiert hat. Auch sein Verhältnis zu Papst Franziskus, den er seit Jahren kennt, ist sehr gut. Unvergessen ist mir der Besuch von Papst Johannes Paul II. im Kirchenzentrum in Edschmiatsin 2001 anlässlich der 1 700-Jahr-Feier des armenischen Christentums.

Nicht nur die jubelnde Menge der Armenier, sondern das Bild, wie der damals „jugendliche“ armenische Katholikos den von Krankheit gezeichneten Johannes Paul II. am Arm stützend und haltend durch die Menge geführt hat. Viele der ursprünglichen dogmatischen Streitigkeiten wurden vor Jahrzehnten beigelegt. Die Ökumene im Kleinen, zwischen der armenischen Kirche der Diaspora und den katholischen Pfarreien funktioniert gut. Die armenisch-apostolische Kirche ist an einer lebendigen Ökumene interessiert und schickt immer wieder junge Priester aus dem Kirchenzentrum von Edschmiatsin zu Studium und Weiterbildung in katholische Länder. Hier findet die wertvollste, nachhaltigste Form des ökumenischen Kontakts statt: im Austausch zwischen armenischen Priestern oder Studierenden und Katholiken.

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