Aserbaidschaner, die mit alten Hausschlüsseln in ihre Heimat zurückkehren, Armenier, die ihre Häuser beim Verlassen niederbrennen - dramatische Bilder, wie man sie von einem Waffenstillstand kaum gewohnt ist. Armenien hat letzte Woche die Zahl der Todesopfer in Bergkarabach auf 2.450 korrigiert und damit fast um ein Drittel erhöht. Auf Kirchen schallt der islamische Siegesruf, Kreuze werden gestürzt. Bereits in den 1990er und 2000er Jahren zerstörten die Aserbaidschaner armenisches Kulturgut. Die Armenier sehen darin - wie im gesamten Konflikt - eine Fortsetzung des Genozids von 1915/1916: Der Gegner vernichtet das Volk nicht nur physisch, sondern merzt auch die Erinnerungen daran aus. Mit seiner Wortwahl stocherte der türkische Präsident Recep Erdogan im nationalen Trauma Armeniens; die Kriegsrhetorik von Aserbaidschans Präsident Ilcham Alijew stieß in eine ähnliche Richtung. In welchem Umfang Streubomben und islamische Söldner aus Syrien gegen armenische Streitkräfte eingesetzt wurden, ist ebenso wenig bekannt wie das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen, die nur langsam an die Öffentlichkeit kommen.
Älteste christliche Nation der Welt
Das historische Ringen Armeniens macht verständlich, was die Niederlage für die älteste christliche Nation der Welt bedeutet. Die Besetzung aserbaidschanischen Territoriums und die Aufrechterhaltung der Republik Arzach in Bergkarabach galt als Überlebensversicherung in einer Region, in der Armenien im Westen wie Osten von feindseligen Nachbarn umgeben ist. Dass Armenien widerrechtlich sieben Provinzen des Nachbarn besetzte, war der Preis für ein sicheres Überleben der mehrheitlich von Armeniern besiedelten, international nicht anerkannten Republik Arzach.
In nur 45 Tagen hat Armenien das verloren, was es sich im Schatten des sowjetischen Zusammenbruchs mühsam über Jahre erkämpft hatte. Zusätzlich haben die Aserbaidschaner am 9. November Schuschi eingenommen. Im ersten Krieg um Bergkarabach konnten aserbaidschanische Truppen von dieser Position die Provinzhauptstadt Stepanakert beschießen. Einen Tag nach dem Fall Schuschis war der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan zur Quasi-Kapitulation gezwungen. Arzachs Staatschef Haraik Harutyunan glaubte das eigene Regime vor dem Zusammenbruch: "Kämpfe fanden bereits in den Vororten von Stepanakert statt, und wenn die militärischen Aktionen mit derselben Geschwindigkeit vorangeschritten wären, dann hätten wir ganz Arzach verloren und schwere Verluste erlitten."
Intervention gilt als Schadensbegrenzung
Armenien sieht sich zwar wegen mangelnder Hilfe vom Westen wie von Russland enttäuscht. Doch obwohl der von Russland unterstützte Waffenstillstand die aserbaidschanischen Eroberungen festgeschrieben hat, gilt die Intervention angesichts einer ausgezehrten armenischen Streitmacht als Schadensbegrenzung. Harutyunan begrüßte das Eingreifen demnach als "Stabilisierung". Russland konnte zumindest den Latschin-Korridor als Verbindung zwischen Armenien und Stepanakert aushandeln. Er wird in Zukunft von Friedenstruppen bewacht. Für Paschinjan beginnen dagegen unruhige Zeiten. Vor zwei Jahren war er als Hoffnungsträger und Vertreter der westlich orientierten Kräfte an die Macht gekommen. Der verheerende Gebietsverlust hätte fast sein vorzeitiges politisches Ende bedeutet: Demonstranten stürmten das Parlament und seinen Wohnsitz, Proteste gegen den Deal arteten in Gewalt aus. Paschinjan hat ein Referendum über seine Politik in einem halben Jahr angekündigt und sich damit kurzfristig gerettet. Ab dem Sommer könnte Armenien in eine innenpolitische Krise driften, sollte der Regierungschef keine Erfolge liefern.
In Aserbaidschan finden indes Siegesfeiern statt. 26 Jahre hat das Land auf die Rückeroberung hingearbeitet. Der rohstoffreiche Staat am Kaspischen Meer ist demographisch und wirtschaftlich seinem Nachbarn überlegen und hat sein Militär modern aufgerüstet. Im Feld waren die Armenier dem Drohnenkrieg nicht gewachsen. Waffen lieferten in der Vergangenheit Russland, die USA und die Türkei an Aserbaidschan. Die technologisch versiertesten Systeme stammen aus Israel, das mit Baku einen Öl-Deal unterhält. Die neue Qualität des Bergkarabach-Konfliktes besteht in der Parteilichkeit der Türkei, die Alijew einen Blankoscheck ausstellte. Der türkische "Bruderstaat" will über Aserbaidschan seinen eigenen Einfluss erweitern. Der Hauptgewinn der Türkei besteht aus einem Korridor durch das südarmenische Meghri, der die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan mit dem Rest des Landes verbindet, und Ankara direkten Zugang zum Kaspischen Meer gewährt. Dort liegen die Erdgas- und Erdöldepots der Zukunft; Gespräche über Pipelines gehören zum Tagesgeschäft.
Türkei hat nicht alle Ziele erreicht
Dennoch hat die Türkei nicht alle ihre Ziele erreichen können. Auf diplomatischem Feld bleibt Erdogan zwar als Gesprächspartner akzeptiert, aber weitgehend isoliert. Die Russen haben ihre Flexibilität im Syrienkonflikt gezeigt, als sie die sogenannte Astana-Gruppe ins Leben riefen. Eine türkische Initiative, im Kaukasus-Konflikt eine ähnliche Gruppe zu gründen, die unabhängig von anderen internationalen Organisationen funktioniert, ist derzeit nicht absehbar. Die internationale Federführung zur Beilegung des Bergkarabach-Konfliktes bleibt der Minsk-Gruppe vorbehalten, die der OSZE angehört. Seit 1992 sitzen dieser Gruppe Frankreich, die USA und Russland vor, während die Türkei in der zweiten Reihe bleibt. Ankara wie Baku hatten daher immer wieder die Minsk-Gruppe kritisiert, womöglich um eine neue Form der Gespräche vorzubereiten. Am 29. Oktober machte Putin jedoch deutlich, dass der Konflikt weiterhin Sache der OSZE bleiben müsse. Auch das Drängen des Kremls auf die Mithilfe internationaler Organisationen bei der Behebung humanitärer Missstände ist ein deutliches Signal.
Moskaus neuentdeckter Hang zum Multilateralismus hat demnach machtpolitische Hintergründe: Russland behält seine privilegierte Position bei einer langfristigen Lösung in Bergkarabach. Die Friedenstruppe bleibt eine rein russische Angelegenheit, die Türkei entsendet nur Inspektoren. Ankara kann als bloße pro-aserbaidschanische Fraktion, die bis heute alle diplomatischen Kontakte nach Armenien gekappt hat, keine ähnliche Vermittlungspolitik fahren wie Russland.
Trotz seiner traditionellen Verbundenheit mit Armenien besitzt Moskau gute Kontakte nach Aserbaidschan. Jerewan und Baku, die Hauptstädte der beiden rivalisierenden Mächte, wurden beide im Jahr 1828 von Persien an Russland abgetreten. Baku hatte als Ölstadt in der Sowjetunion eine strategisch wichtige Bedeutung und hat diese auch nach der Unabhängigkeit nicht verloren. Putins Äußerung, dass er beide Länder als "gleichwertige Partner" erachte, ist daher wenig überraschend: Aserbaidschan gehört zum post-sowjetischen Vorhof und Russland hat ein vitales Interesse daran, dass die Allianz mit der Türkei keine Schicksalsgemeinschaft wird.
Diplomatische Lösung schwieriger denn je
In der Vergangenheit konnte Russland auf die Flexibilität Aserbaidschans spekulieren. Letzteres kann seine Grenzen nur über internationale Anerkennung absichern. Die türkische Ermunterung und der erfolgreiche Waffengang haben jedoch eine diplomatische Lösung schwieriger denn je gemacht. Bereits während des Krieges widersprach Alijew der Position der EU, dass eine militärische Lösung keine Option sein könne. Das Ergebnis der Waffenruhe hat Aserbaidschan seinen Zielen nähergebracht, als ein Vierteljahrhundert Verhandlungen. Baku könnte demnach geneigt sein, in Zukunft wieder nach militärischen Optionen zu suchen. Zugleich wurde Armenien seines Faustpfandes beraubt, um den diplomatischen Weg zu beschreiten. Ein möglicher Friedensplan sah vor, dass Armenien die sieben besetzten Provinzen aserbaidschanischen Territoriums räumen sollte, im Gegenzug sollte Aserbaidschan einem Referendum über die Zukunft der Region zustimmen. Baku hat nun Fakten geschaffen, Armenien dagegen keine Verhandlungsmasse mehr.
Die Friedensmission hat ein fünfjähriges Mandat erhalten. Auf den ersten Blick sieht dies nach einer Stärkung Russlands im Kaukasus aus. Doch die Mission entpuppt sich als zweischneidiges Schwert. Die Sowjetunion hatte sich im Konflikt zwischen 1988 und 1994 zurückgehalten, weil sie das Pulverfass kannte. Russland muss nun den Exodus der Armenier aus den aserbaidschanisch kontrollierten Gebieten überwachen; es muss die friedliche Übergabe der Territorien kontrollieren; und es muss die Sicherheit der Verbliebenen garantieren. Wie groß das Misstrauen ist, zeigt die Gerüchteküche um den Kommandanten der Friedensmission, Rustam Muradow. Der sah sich genötigt, öffentlich im Fernsehen zu erklären, dass er der tabassarischen Minderheit in Dagestan angehöre, nachdem mehrere Stimmen kolportiert hatten, er sei aserbaidschanischer Abstammung. Fraglich bleibt, ob die rund 2.000 Mann ausreichen, um das Gebiet zu sichern und zu befrieden. Scheitert Russland in Bergkarabach, dann verliert es das Vertrauen beider Länder.
Die USA hätten eine ähnliche Mission starten können
Eine offene Frage bleibt das Vorgehen des Westens. Die anderen Co-Vorsitzenden der Minsk-Gruppe, die USA und Frankreich, sind von der Eskalation und der russischen Initiative überrumpelt worden, ohne eigene Akzente zu setzen. Der EU-Sonderbeauftragte für den Südkaukasus, Toivo Klaar, blieb in der Krise eine blasse Gestalt. Der Vorstoß des französischen Oppositionspolitikers Bruno Retailleua, die Republik Arzach international anzuerkennen, dürfte rein innenpolitisch motiviert sein; selbst Armenien schreckt vor diesem Schritt zurück.
Die amerikanische Abwesenheit ist nicht nur den Wahlwochen geschuldet. Sie passt zur Interessenverlagerung in den Pazifischen Raum. Der russisch-türkische Vorhof hat angesichts der begrenzt gewordenen Ressourcen geringere Priorität. Dabei wären die USA die einzige Macht, die wie Russland mit schnellen Eingreiftruppen eine ähnliche Mission hätten starten können. Mit der Rückkehr des 19. Jahrhunderts in die Außenpolitik rückt die "hard power" wieder in den Vordergrund. Staatengemeinschaften, internationale Organisationen und auch Nationalstaaten ohne militärische Flexibilität können humanitäre Ergänzungsaufgaben übernehmen, bleiben jedoch in ihrer Bedeutung hinter den Platzhirschen der Weltpolitik zurück.
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