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Hochschätzung und Missachtung

Der Zölibat hat im Mittelalter nicht weniger polarisiert als heute – Seine Akzeptanz steht und fällt mit dem Priesterbild. Von Walter Kardinal Brandmüller
Regenschauer in Mainz
Foto: dpa | Ein verwilderter Klerus, Bischöfe, die Mörder und Ehebrecher waren, gehörten zu den Anfangserfahrungen des heiligen Bonifatius. Hier seine Statue vor dem Mainzer Dom.

Der Untergang des westlichen Imperium Romanum, wie die durch die Völkerwanderung hervorgerufenen Umbrüche betrafen auch die Kirche Mitteleuropas – die Britischen Inseln wie auch die Iberische Halbinsel blieben davon im Wesentlichen unberührt. Nicht so Italien, das vorzügliche Ziel der Migration aus Nord und Ost.

Folge davon war ein weitgehender Zusammenbruch der spätantiken lateinischen Kultur – und damit des kirchlichen Lebens. Dies galt auch für jenes Germanien, wohin im Jahre 718 der englische Mönch Winfried/Bonifatius von Papst Gregor II. als Missionar gesandt wurde. Dort waren die Reste des spätantiken Christentums vielfach im Chaos untergegangen. Der aus dem hochstehenden kirchlich-kulturellen Milieu seiner Heimat kommende Mönch sah sich dort alsbald Verhältnissen gegenüber, die ihm den Atem raubten. Ein verwilderter Klerus, Bischöfe, die Mörder und Ehebrecher waren, gehörten zu seinen Anfangserfahrungen, wie sein erhaltener Briefwechsel bezeugt.

Hierbei kam dem „Concilium Germanicum“ des Jahres 742 entscheidende Bedeutung zu. Unter der Leitung des heiligen Bonifatius und des fränkischen Hausmeiers Karlmann wurde – neben anderen Reformmaßnahmen – auch der Zölibat von Priestern eingeschärft, und im Falle von Missachtung Kerker und Geißelung als Strafe verhängt.

Mit diesem Konzil war der Grund gelegt, auf dem eine Generation später Karl der Große mit seinem stupenden Reformwerk, das man heute als „Karolingische Renaissance“ bezeichnet, aufbauen konnte. Dabei spielten Klerus und Klöster eine führende Rolle. In dem Maße, in dem das Bildungsniveau sich hob, blühte auch das kirchliche Leben auf – und damit die Treue zur Zölibatsverpflichtung. In hohem Maße bemerkenswert ist die Tatsache, dass in der umfassenden Gesetzgebung von fünf Synoden im Jahre 813 kaum eine Erwähnung der Zölibatsverpflichtung zu finden ist. Das mag durchaus als Hinweis auf mangelnden Handlungsbedarf verstanden werden. Es ist evident, dass der Ausbau eines Netzes hoher Schulen im Reich Karls des Großen für das hohe religiös-sittliche Niveau des Klerus von grundlegender Bedeutung war. Ähnliches gilt für die Britischen Inseln und das westgotisch-römische Spanien.

Anders hingegen stellt sich die Situation in Italien, namentlich in Rom, dar, das seit dem zehnten Jahrhundert sein durch nur wenig Licht durchbrochenes „Saeculum obscurum“ mit all seinem Horror erlebte, bis um die Jahrtausendwende der jugendliche Gregor V., Vetter des Kaisers Otto III., auch eine Wende in Papsttum und Kirche einläutete. Nun konnte sich die römische Reformbewegung entfalten, deren Hauptziel die Freiheit der Kirche und ein geistlich erneuerter zölibatärer Klerus war.

Dass die kirchliche Wirklichkeit davon zunächst noch weit entfernt war, lässt allerdings die Synode von Pavia des Jahres 1022 erkennen, die unter der Leitung Papst Benedikts VIII. und der Mitwirkung Kaiser Heinrichs II. energisch auf der Zölibatspflicht bestand und als Strafe für deren Verletzung die Entfernung aus dem Amt verfügte.

Indes zeigt die Begründung für diese scharfen Bestimmungen zugleich, wie ungenügend und vordergründig sie motiviert waren: Es ging im Wesentlichen darum, Kircheneigentum nicht zu entfremden, indem es in die Hände von Priesterkindern gelangte. So kann es nicht verwundern, dass eine solche an der Oberfläche des Problems verbleibende Maßnahme ohne tiefergreifende Wirkung blieb.

Sollte diese erzielt werden, bedurfte es anderer Gründe und Impulse. Solche waren indes in der die zweite Hälfte des elften Jahrhunderts bestimmenden Reformbewegung – später benannte man sie nach Gregor VII. – mit Macht wirksam.

Ihren Protagonisten ging es um die „Libertas ecclesiae“, die Freiheit der Kirche von Laiengewalten, von Simonie und Priesterehe beziehungsweise Konkubinat.

Ein Meilenstein auf diesem Weg war die Lateransynode des Jahres 1059, die keineswegs nur wegen ihres Papstwahldekretes Geschichte gemacht hat. Noch viel mehr wirkte sie nach durch ihre Forderung der Ehelosigkeit von Subdiakonen, Diakonen und Priestern, die ihrerseits zum Programm der gleichfalls von diesem Konzil geförderten Kanonikerbewegung gehörte. Diese erlebte um die Mitte des Jahrhunderts einen geradezu stürmischen Aufschwung, als dessen Zentren Rom, Mailand, Lucca und Passau bald hervorragten. Es war nicht zuletzt die Verbindung von gemeinsamem Leben, seelsorglichem Einsatz, sowie Pflege von Liturgie und Wissenschaft, mit der die „vita canonica“ auf die Anforderungen der Zeit antwortete.

Es ist bemerkenswert, dass gerade um die Jahrtausendwende sich Benediktinerabteien in Kanonikerstifte umwandelten, und dass diese die Mönchsklöster zum Beispiel in Bayern an Zahl übertrafen. Das heißt, dass die monastische Lebensform an Attraktivität verlor und jene kanonikale zunahm. Die Frage drängt sich nun auf, welches die tieferen Gründe und Ursachen für diese Entwicklung waren. Da werden gewiss Fragen soziologischer, kulturgeschichtlicher, ja ökonomischer Art zu stellen sein, aber die eigentlichen Gründe liegen tiefer. Das gilt für die gesamte gregorianische Reform wie für den Investiturstreit. Im Grunde war eine Neubesinnung auf das Wesen des Priestertums im Gange, auf die sakramentale Wirklichkeit der Kirche im Ganzen. Nicht zufällig wird jetzt auch der Begriff „Sakrament“ theologisch präzisiert und auf die Siebenzahl eingegrenzt, wie sie seither feststeht und schließlich vom Konzil von Trient endgültig definiert wurde. Es war die um die Jahrtausendwende einsetzende Rezeption der aristotelisch-scholastischen Begrifflichkeit und Logik, die diese Entwicklung der Theologie ermöglichte. Beredte Zeugen für dieses sakramentsbezogene Verständnis des Priestertums sind die zahlreichen damals verfassten Heiligenleben, die das „neue“ und doch so ursprüngliche Priesterbild widerspiegeln. Zugleich lassen sie die damit verbundene Hochschätzung der zölibatären Lebensform erkennen. Analoge Entwicklungen waren in Italien und Frankreich im Gange. Das dreizehnte Jahrhundert ist alsdann von der sich rasch ausbreitenden Franciscus-Bewegung und dem geradezu stürmischen Wachstum des Ordens des heiligen Dominikus geprägt, deren Ordensregeln natürlich die Ehelosigkeit und Keuschheit voraussetzten. Dass von dieser Bewegung auch ein starker Einfluss auf den Weltklerus ausging, ist offenkundig.

Indes konnte diese Höhe des Ideals auf die Dauer nicht gehalten werden. Das vierzehnte Jahrhundert war durch Pestepidemien, Kriege, wirtschaftliche Krisen, soziale Unruhen und sogar gewalttätige theologische Auseinandersetzungen um die Armutspraxis der Franziskaner gekennzeichnet. Zugleich entstand, begünstigt durch die Vermehrung kirchlicher Pfründe beziehungsweise Messstiftungen, ein klerikales Proletariat: Meist unzureichend ausgebildet wie vorwiegend von materiellen Interessen geleitet, erstrebte man solche Pfründe, mit denen oftmals nicht einmal seelsorgliche Verpflichtungen verbunden waren.

All dies war die Folge davon, dass man im Priester vorwiegend nur mehr den Angehörigen eines privilegierten gesellschaftlichen Standes, des Klerus, einen Kultfunktionär sah, wobei man die im Sakrament der Weihe gründende Existenz des Priesters und seiner Sendung aus dem Blick verloren hatte. So konnte es zu der weitgehenden Missachtung des Zölibats und den damit verbundenen Ärgernissen kommen, wie sie in Boccaccios „Decamerone“ literarischen Ausdruck fanden. Die Quellenlage gestattet es allerdings nicht, einigermaßen zuverlässige Angaben über die Treue des Klerus zum Zölibat beziehungsweise dessen Missachtung zu machen. Visitationsberichte sind aus dem 15. und 16. Jahrhundert nur sporadisch überliefert. Literarische Texte, Synodalpredigten neigen zu rhetorischen Übertreibungen und sind darum mit Vorsicht zu lesen, Synodalstatuten von Provinzialkonzilien enthalten gesetzliche Regelungen, sprechen aber nicht über deren Einhaltung und so weiter. Kurzum: Einigermaßen zutreffende Zeugnisse über die gelebte Treue zum Zölibat sind aus dem Spätmittelalter nicht erhalten.

Wenn nun auch keine einigermaßen zuverlässigen Zeugnisse für die Treue zum Zölibat vorhanden sind, so steht doch eines fest: Treue oder Missachtung hängen ganz wesentlich davon ab, welches Bild, welcher Begriff vom Priestertum zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Milieu vorherrschte. Je mehr eine Gesellschaft im Priester den Mann sah, der Kraft heiliger Weihe an Christi Statt das Evangelium verkündet, die Gemeinschaft der Gläubigen als der gute Hirt in Vollmacht leitet, „in persona Christi“ am Altar das heilige Opfer feiert und die Sakramente spendet, desto einsichtiger und folgerichtiger wurde – und wird – erkannt, dass er auch die Nachfolge Jesu Christi antritt und seines Meisters Lebensform übernimmt.

Dies war zur Zeit der Karolingischen Reform der Fall, auch, wie gezeigt, im zwölften Jahrhundert, dem dann die hohe Zeit der Bettelorden folgte, schließlich auch im Einflussbereich humanistischer Reformer im 15. Jahrhundert und, natürlich, nachdem das Konzil von Trient sowohl zum Priestertum selbst als auch zur Priesterausbildung gesprochen hatte.

Kurzum: Bejahung oder Ablehnung des priesterlichen Zölibats hing und hängt ganz wesentlich davon ab, welche Vorstellung vom Amt und Wesen des Priesters eine Gesellschaft hat. Deren Wandlungen im Laufe der Geschichte finden alsdann ihren Reflex in Hochschätzung oder Missachtung des Zölibats. Blicken wir nun auf die gegenwärtige Situation, die seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch Amtsflucht von Priestern und spektakuläre Leere der meisten Seminarien gekennzeichnet ist, so stellt sich die Frage, wo die Ursachen dafür zu suchen sind. Sehen wir von der zweifellos auch zu beachtenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ab und fragen nach den „innerkirchlichen“ Gründen.

Da ist es wiederum das seit Jahrzehnten herrschende Bild vom Priester, der vorwiegend als Manager einer Gemeinde, als Sozialarbeiter mit einer gewissen psychologischen, spirituellen Kompetenz betrachtet wird. Auch als Arbeitgeber und Betreiber sozialer, vielleicht auch kultureller Institutionen. Dazu, freilich, braucht es keinen Zölibat. Dieser wird darum als unnötige, im Übrigen die freie Persönlichkeitsentfaltung einschränkende Belastung empfunden. Wenn also heute wieder einmal eine Zölibatsdiskussion angeheizt wird, dann ist dies eine Folge davon, dass das Verständnis des katholischen Priestertums erneut in eine Krise geraten ist. Dies ist umso unverständlicher, als das Zweite Vatikanische Konzil vor allem in den Dekreten über die Priester „Presbyterorum ordinis“ als auch über die Priesterausbildung „Optatam totius“ die Bedeutung des Weihesakraments und damit des Priestertums eindrucksvoll dargelegt hat. Es ist ebenso unverständlich wie verhängnisvoll, dass beide bedeutende Texte des Konzils weithin bloßer Buchstabe geblieben sind. Stattdessen haben neueste „Errungenschaften“ von Soziologie, Psychoanalyse, Gruppendynamik, Selbsterfahrungsgruppen und ähnlicher Unfug in den Seminarien Einzug gehalten und nicht wenige gesunde junge Männer daraus vertrieben. Misst man heute, ein halbes Jahrhundert nach dem Konzil, die Realität der theologischen Fakultäten und der Priesterseminare an dessen Dekreten, so kann man nur ein Scheitern des Konzils auf breiter Front konstatieren. Keine Frage, dass diese Entwicklung auf die Einstellung zum Zölibat negative Folgen hatte. Es ist evident: Je mehr das in sakramentaler Weihe gründende Priestertum als die Weise begriffen wird, in der der Erhöhte Christus in seiner Kirche sein Erlösungswerk bis zum Ende der Zeiten fortsetzt, desto selbstverständlicher wird der Priester die Lebensform seines Meisters Jesus Christus auch für sich selbst übernehmen. Es wäre also an der Zeit, die Vorgaben des oft berufenen und doch ignorierten Zweiten Vatikanums über Priestertum und Priesterausbildung endlich zur Kenntnis zu nehmen und umzusetzen.

Im Rückblick auf zweitausend Jahre Kirchengeschichte wird klar, dass hohe Zeiten des kirchlichen Lebens immer auch Zeiten des treu gelebten Zölibats waren – und umgekehrt.

Der Autor war über zehn Jahre Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaft.

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