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Wende verzweifelt gesucht

Giuseppe Gracias neuer Roman „Der Abschied“ möchte eine Welt bewahren, die im Strudel des Mainstreams unterzugehen droht. Von Burkhardt Gorissen
Gemälde von Anthony Frederick Augustus Sandys (1829–1904).
Foto: IN | Man möchte ihr in diesen Zeiten zurufen: Schweig, Kassandra! Gemälde von Anthony Frederick Augustus Sandys (1829–1904).

Wenigstens kann ich sagen, dass ich nicht feige gewesen bin, als man uns an dem Abend in Berlin, mit den hohen Gästen aus Politik und Kultur, hingerichtet hat“ – so beginnt Giuseppe Gracias neuer Roman „Der Abschied“. Gracia beschreibt den brutalen Anschlag auf eine Berliner Kulturveranstaltung. Vor laufender Kamera werden Mitglieder der Kulturelite und Prominente von Islamisten enthauptet und erschossen.

Der namenlose Ich-Erzähler wütet gegen den Meinungs-Mainstream und kämpft mit dem persönlichen Schicksal seiner Frau, die Selbstmord begangen hatte. Ein furioses Gericht biblischen Ausmaßes. Sein Buch habe drei Ebenen, sagt Gracia: Die politische Korrektheit, worunter der Ich-Erzähler leidet, die Auslöschung der Freiheit durch Islamisten und die Depression in einer globalisierten Gesellschaft, die bis zum Selbstmord führt – verkörpert durch die Veronika, die tote Ehefrau des Ich-Erzählers. Der Roman trage, so Gracia, autobiografische Züge: „Mein Bruder nahm sich vor zehn Jahren das Leben, er legte sich vor einen Zug. Genau wie die Figur Veronika.“ In einem Interview mit der schweizerischen Tageszeitung „Blick“ gesteht er: „Heute haben wir in Europa ein therapeutisches Kalifat, wie es der Philosoph Michael Rüegg nennt. Anstatt Gott herrscht bei uns die Volkstherapie.“ Die Angst des Establishments ist inzwischen so groß, dass Nachrichten von islamischen Attentaten, sofern sie sich nicht mehr verheimlichen lassen, so platziert werden, dass man sie nicht mehr als Headline wahrnimmt. „Wenn einer ,Allahu Akbar‘ ruft und Leute abknallt und man sagt, das sei ein verwirrter Einzeltäter, habe ich Mühe.“

Giuseppe Gracia, als Sohn eines sizilianischen Vaters und einer spanischen Mutter 1967 in St. Gallen geboren, ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Er hat mehrere Romane geschrieben und verfasst regelmäßig Beiträge und Kolumnen für Schweizer Zeitungen. Er ist Mediensprecher des Churer Bischofs Vitus Huonder und ein eigenständiger Kopf. Allerdings spürt er, wenn man so will, der Stimme des Herrn nach, denn er ist ein guter Katholik konservativer Ausprägung. Seine pointierten Positionen muss man nicht teilen, aber man sollte sie ihm zugestehen, ohne ihn gleich, wie heutzutage leider üblich, mit Etiketten zu behängen, wodurch jede Debatte zerstört wird. Vor allem sollte man ihm zuhören, auch wenn das, was er sagt, schmerzt. Warum auch nicht?

Es gibt Kunst, die uns Ekel und Selbstekel gegenüberstellt, wie die von Michel Houellebecq, dessen Aussagen der linksliberale Mainstream am liebsten unter den Tisch fallen ließe, wenn sie sich schon nicht verhindern lassen. Wer eine eigene Meinung hat, opfert sie entweder auf dem Altar der politischen Korrektheit – oder er fällt durch das Raster des Gutmenschentums. Gracias Roman „Der Abschied“ ist nicht irgendein Buch. Es ist eins der unerbittlichsten und beunruhigendsten Bücher überhaupt, mit dem der Schriftsteller die europäischen Gegenwartslügen entlarvt, radikal und kompromisslos. Eine Grandezza hochmütiger Todesverachtung wabert durch Gracias Welt. Man sieht Menschen beim Morden zu, sieht zu, wie sich Explosionen entwickeln, Schrecken und Schicksalsschläge, wie Hass und Wut wachsen und die Angst, dass etwas losbricht, das schlimmer ist, als ein paar abgeschlagene Köpfe, ein Bürgerkrieg zum Beispiel, einer, der wie ein Höllensturm das alte Europa für immer auslöscht.

Und der Orient? Die Weisheiten eines Hafis „Der du, o Herr, ein Helfer in den Nöten/ So wie ein Richter aller Streite bist! Was könnte ich Geheimes dir vertrauen,/ Da nichts Geheimes dir verborgen ist?“ Alles verloren, unter der Fratze des Terreurs? Nein, Gracias Sicht der Dinge entbindet nicht von der Pflicht, den Dialog zu suchen. Sie zwingt ausdrücklich dazu. Als Modell für einen gemeinsamen Dialog könnte die bekannte Passage aus der Regensburger Rede von Benedikt XVI. dienen. Der damalige Papst zitierte ein Wort des byzantinischen Kaisers Manuel II. aus dessen Dialog mit einem muslimischen Gelehrten aus Persien zu islamischer Gewalt. Der gelehrte Kaiser charakterisierte die Gewaltdimensionen des Islam als nicht vernunftmäßig und damit widergöttlich. Die dazugehörige Empörung prasselte auf Benedikt XVI., wie sie auch auf Guiseppe Gracia niederprasseln könnte.

Die Vorbilder dieses katholischen Autors sind bei den großen Provokateuren des neunzehnten Jahrhunderts zu suchen, wenn auch bei den unkatholischsten: Emile Zola und Gustave Flaubert. Einiges mag er auch, bewusst oder unbewusst, von der ausgeklügelten filmischen Schnitttechnik eines Jean-Luc Godard gelernt haben. Seine Sprache ist urtümlich und wild, leidenschaftlich und zügellos, sie strotzt von Vitalität und elementarer Krafthuberei. Packend, brutal, brillant, berstend. Die Argumente, die er seiner namenlosen Ich-Figur in den Mund legt, rufen zum Widerstand auf. Und auch zum Widerspruch. Im Zweifel… Im Zweifel für den Angeklagten? Mitunter fehlt die Empathie, die sich manchmal verliert im Überschwang. Empathie, auch sich selbst gegenüber – und dem Feind in uns selbst gegenüber. Der Feind, der innerhalb unserer Mauern und Vorstellungen herumgeistert, ungeachtet aller Beschwichtigungen, Gracia macht ihn sichtbar. Das wird man ihm unter Umständen nicht verzeihen. Er macht auch die latente Gefahr sichtbar, die der kommenden Katastrophen, deren Kommen er eher angstvoll bemerkt, Rufer in der Wüste, der mit der Arroganz der Macht um die Deutungshoheit der gegenwärtigen Ereignisse konkurriert. Er ist kein Politiker. Er ist Schriftsteller und da ist er ganz. Der Vorwurf, er spiele den politisch Unkorrekten auf eine ritterlich unpolitische Art, scheint ihm herzlich gleichgültig. Er riskiert die Auseinandersetzung. Nicht nur aus Ablehnung und Entrüstung, sondern auch aus der Freude an der humanistischen Diskussionswut, die der gegenwärtige Mainstream hinter seiner politisch korrekten Angstfassade verbirgt. Aus dieser Diskussionswut dürfte er die Kraft geschöpft haben, mit so viel Mühe ein so akribisch beobachtetes Zeitdokument wie „Der Abschied“ zusammengetragen zu haben. Hinter den scheinbaren Anwürfen gegen den Islamismus verbirgt sich ein kulturwahrender Antrieb, der selbst in seiner Schwarzgalligkeit dem eigenen Glauben, dem Katholizismus, gegenüber spürbar ist. Der Autor ist dennoch ein Mann mit sehr originellem, mitunter makabrem Humor, aber selten gewordenem Einfühlungsvermögen: „Vor Veronikas Grab bleibe ich stehen und stocke, weil sich daneben ein Grabstein mit meinem Namen befindet.“

Weil „Der Abschied“ von der anekdotischen Szene lebt, geraten dem Autor seine Lust am Fabulieren und seine manchmal bewundernswerte Phantasie in einigen Szenen etwas barock, jedoch nie trivialisiert. Seine Sätze sind niemals schwerfällig, auch wo sie sich zu Gedankensprüngen auswachsen, bleiben sie durchsichtig. Die Diktion ist kantig, aber nicht ungenau. Erst recht nicht, wenn er in das makabre Idyll des abendländischen Gutmenschentums massenhaft Köpfe rollen lässt. Gleichwohl, es würde kaum einen Kameramann eines deutschen Fernsehsenders geben, der „ohne sich stören zu lassen“ das Geschehen filmt, geschweige denn eine Regie, die dergleichen Terror über den Sender laufen ließ. Aus journalistischer Sensationsgier vielleicht, aufgrund politischer Korrektheit niemals. Allein hier rettet den Autor der Umstand, dass es sich um eine Traumsequenz handelt. Eine gleichsam somnambule mit Surrealismus getränkte Sequenz. „Der Abschied“ ist keine Zukunftsvision, auch keine Dystopie. Die von Gracia geäußerten Befürchtungen halten uns längst gefangen. So trifft ihn nicht der Vorwurf, er öffne die Büchse der Pandora, das hat die Politik mit zynischer Wurstigkeit längst getan. Und wir alle werden damit verwurstet.

Dem Chronisten bleibt nur die Hoffnung darauf, dass sich Guiseppe Gracias Ahnungen nicht bewahrheiten mögen, also die Hoffnung auf einen leeren Bildschirm. Und doch ist es wie in der griechischen Tragödie. Man möchte rufen, Schweig, Kassandra! Es sind schlimme Zeiten, wo Bücher in Internetforen auf den Scheiterhaufen der Ignoranz vernichtet werden, und kein Autor mehr sicher ist, nicht an den Medienpranger gestellt und mit der vollen Brutalität der Mainstream-Websites zerstört zu werden. Noch ist diese Form der Gewalt indirekt, doch der mediale Umgang mit Opponenten lässt Schlimmeres erahnen. So wirkt das Buch auf den Mainstreamgewöhnten wie Peitschenschläge. Sartre sagte einmal, die Worte des Schriftstellers seien „geladene Pistolen“ und der Schriftsteller müsse „wie ein Mann auf ein Ziel schießen und nicht wie ein Kind auf gut Glück, mit geschlossenen Augen und nur, um vergnügt das Knallen zu hören“. So konnte jemand wie Sartre noch reden. Uns bleibt der Rückgriff aufs Klassische: Medusa, die einzig Sterbliche der Gorgonen, wurde von Perseus enthauptet. So wird die Realität zur Textur und umgekehrt. Es bleibt spannend, den Weg des Autors Gracia und seines Romans „Der Abschied“ weiter zu verfolgen.

Guiseppe Gracia: Der Abschied. Bucher GmbH & Co, 2017, 112 Seiten, ISBN-13: 978-3990184004, EUR 13,50

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