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Ökologie des Herzens

Was wäre gewonnen, wenn die Welt CO2-neutral wird, es aber immer weniger emotional gesunde Menschen gibt? Ein Plädoyer für Verbundenheit, Sinn und Schönheit.
Schönheit
Foto: Adobe Stock | Menschen sind ästhetische Wesen, betont Johannes Hartl. Dass es den Sinn für Kunst und Schönheit gibt, seit es Menschen gibt, zeigen etwa steinzeitliche Höhlenmalereien.

Bei der Omnipräsenz des ökologischen Themas fällt auf, dass ein Aspekt von Nachhaltigkeit kaum je thematisiert wird. Es geht um den Umgang mit einer Ressource, die so grundlegend ist, dass mit ihr alles andere seine Bedeutung verliert. In seinen mitunter gewagten Zukunftsvisionen stellt der israelische Bestsellerautor Noah Yuval Harari die Frage, welche 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert maßgeblich sind. Mit Blick auf die immer größere Macht der Algorithmen bezeichnet er die Fähigkeit des Menschen, selbstreguliert zu handeln, als Kernkompetenz der Zukunft. Empathisch zu bleiben und sich nicht manipulieren zu lassen, das sei das, was Menschen bräuchten, um im Wettlauf gegen die Maschinen bestehen zu können. Unsere Welt wird vernetzter und komplexer und die Menschen, die die Probleme der Zukunft lösen werden, müssen über innere Stabilität verfügen. Es geht also um eine Ressource des Herzens. Was wäre auch gewonnen, so könnte man auch fragen, wenn die Welt CO2-neutral wird, es aber immer weniger empathische, immer weniger emotional gesunde Menschen gibt? Doch was braucht das menschliche Herz, um gesund zu bleiben? Auf welche Ressourcen müsste eine Ökologie des Herzens achten?

Der Wert des Menschen

Um überhaupt irgendetwas zu schützen, muss man darin einen Wert erkennen. Die ökologische Bewegung ist in manchen ihrer Auswüchse geradezu von Verachtung des Menschlichen geprägt. Der Mensch ist aber eben nicht nur eine Spezies unter vielen. Es gibt Dinge, die nur Menschen tun. Es gibt Eigenschaften, die ihn radikal vom Tierreich unterscheiden. Was macht den Menschen zum Menschen? Und was sorgt dafür, dass er auch menschlich bleibt? Verbundenheit, Sinn und Schönheit.

Menschen sind Bindungswesen. Sie sind biologisch Nesthocker und auf soziale Interaktion zutiefst angewiesen. Tiefe und Qualität der Beziehungen eines Menschen sind die wichtigsten Voraussetzungen für und Gradmesser seines psychischen Wohlbefindens.

Menschen sind Wesen, die nach dem Sinn fragen. Bereits in den ältesten Resten prähistorischer Menschensiedlungen finden sich Gräber. Der Gedanke an das Jenseits, an Geister und Götter ist fundamental menschlich. Ohne Sinn können Menschen nicht überleben.

Menschen sind ästhetische Wesen. Die steinzeitlichen Höhlenmalereien zeigen, dass es den Sinn für Kunst und Schönheit gibt, seit es Menschen gibt.

Die These dieses Artikels nun lautet: Verbundenheit, Sinn und Schönheit sind die drei wesentlichen Ressourcen einer Ökologie des Herzens. Bewahren wir sie, bewahren wir den Raum des Herzens. Ohne sie kippt auch das innere Ökosystem der Menschheit. Und alle drei haben mit Gott zu tun.

Verbundenheit

Dass Rauchen schädlich und das Anschnallen im Auto lebensrettend sein kann, hat sich herumgesprochen. Gesetze sorgen dafür, dass Zigarettenpackungen mit schockierenden Warnhinweisen versehen sind. Weniger bekannt ist, dass auch ganz Anderes lebensbedrohlich sein kann. Einsamkeit, zum Beispiel. Eine groß angelegte Metastudie der Forscher Holt-Lunstad, Smith und Layton („Social Relationships and Mortality Risk“) untersuchte den Zusammenhang zwischen Beziehungen und Sterblichkeit in 148 Einzelstudien an über 300 000 Testpersonen. Das Ergebnis: Die Qualität und Quantität von Beziehungen ist für das physische Überleben ähnlich bedeutsam wie der Umgang mit Suchtmitteln oder Körpergewicht. Anders ausgedrückt: Einsamkeit ist so gefährlich wie Rauchen oder Alkoholismus. Doch wie entwickelt der Mensch die Fähigkeit zu positiven Beziehungen? Hier kommt die Bindungsforschung zu wichtigen Erkenntnissen: Wer in den ersten Lebensjahren stabile Bindung erlebt hat, wird später mit größerer Wahrscheinlichkeit stabile Beziehungen eingehen. Als optimale Bindungen werden solche bezeichnet, die über längere Zeit hinweg gleichbleibend und von emotionaler Resonanz geprägt sind. Erlebt ein Mensch das als Kind, wird er fähiger, seine Gefühle zu regulieren, dadurch teamfähiger und er findet leichter Freunde, beides macht beruflichen Erfolg wahrscheinlicher. Sicher gebundene Kinder entwickeln später seltener Verhaltensauffälligkeiten und Süchte, werden seltener straffällig, kosten den Staat sogar, wie eine jugendpsychiatrische Studie unter dem Titel „The Cost of Love“ (Bachmann et. al.) zeigt, bedeutend weniger an Sozialleistungen. In den ersten Lebensjahren des Kindes ist die Präsenz emotional offener Eltern des Kindes, gerade der Mutter, ein unüberbietbares Optimum.

Dass unsere Gesellschaft im Begriff ist, die Herzensressource Bindung durch eine rein ökonomisch orientierte Familienpolitik und die passende Ideologie zu unterminieren, ist offenkundig. Die dadurch entstandenen Schäden werden uns noch lange beschäftigen. Der Bruch geht jedoch noch tiefer. Der Mensch ist Bindungswesen, weil er Beziehungswesen ist. Beziehung jedoch gibt es immer in drei Richtungen: zu Menschen, zu sich selbst und „nach oben“. „Religio“ bedeutet ursprünglich „Bindung“. Wenn der Philosoph Charles Taylor den Prozess der Säkularisierung als Abschied von der „großen Einbettung“ des Menschen in eine metaphysische Heimat deutet, wird klar, was Verlust derselben meint. Entfremdung von Gott muss einhergehen mit Entfremdung von der Gemeinschaft und von sich selbst. Genau das meint Sünde, das Wort kommt von „absondern“: Trennung. Gott stellt sich in der Heilsgeschichte von Anfang an als Bundesgott vor. Einzigartiges Merkmal der jüdisch-christlichen Gottesvorstellung! Wenn Menschen sich nicht mehr in stabilen Bindungen finden, verlieren sie die Fähigkeit, Bündnisse einzugehen und zu halten. Die soziale Substanz der Gesellschaft erodiert, die Herzen erkalten.

Sinn

Wenn es eine zentrale Erkenntnis gibt, die Viktor Frankl in seinen grauenhaften Jahren im Konzentrationslager gewann, dann diese: Der Mensch kann nicht leben ohne Sinn. Sinn jedoch, so Frankl, wird nicht erfunden, sondern aufgefunden. Es gibt keinen Sinn, wenn alles gleich ist, wenn Gut und Böse, Wahr und Falsch austauschbar sind. Als junger Kommunist musste Alexander Solschenizyn mit ansehen, zu welchen bestialischen Auswüchsen das stalinistische System fähig war. In ihm wuchs die Erkenntnis, dass es das objektiv Böse gibt. Es beginnt mit einem Leben in der Lüge. „Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt“ – heißt es später in seiner Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises 1970. Doch was ist Wahrheit? Hat nicht jeder seine eigene? Wenn es mehrere Wahrheiten gibt, dann ist die Instanz, die den Überblick darüber hat, mächtiger als die Wahrheit. Wer oder was das Mächtigste ist, das ist im Letzten die Frage nach Gott. Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt, wusste schon Dostojewski. Wenn es aber Gott gibt, dann verdient er, als Gott anerkannt zu sein. Er gilt dann höher als jeder Geltungsanspruch des Menschen. Gott ist wahr und in ihm ist keine Lüge. Gott als Gott anerkennen ist deshalb Akt tiefster Wahrheit. Anbetung ist die Ordnung der Realität. Der Jesuit Alfred Delp schrieb aus seiner Todeszelle: „Brot ist wichtig, die Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.“

Wo der Mensch Gott nicht mehr anbetet, wird er etwas anderes anbeten – meistens sich selbst. Doch der Sinn des Auges, so wieder Frankl, besteht nicht darin, sich selbst zu sehen. Ein Auge, das sich selbst sieht, ist krank. Der Mensch ist nicht nur für sich selbst gemacht. Er findet seinen Sinn in der Hingabe seiner selbst an den Schöpfer (vgl. „Gaudium et spes“ 24).

Schönheit

Faustkeile gehören zu den ersten Werkzeugen, die Menschen hergestellt haben. Die ältesten Funde reichen in die Frühzeit der Menschengeschichte vor knapp zwei Millionen Jahren zurück. Verblüffend ist, dass viele Faustkeile symmetrisch geformt sind. Für das Erlegen eines Säbelzahntigers spielt es keine Rolle, ob die Klinge symmetrisch ist oder nicht. Es waren ästhetische Gründe, so mutmaßen Forscher, die die Form der Faustkeile beeinflussten. „Form follows function“, lautet das Grunddogma des zeitgenössischen Designs. Die Formschule des Bauhaus machte es zur weltweiten Doktrin. Doch was nicht schön ist, funktioniert nicht wirklich. Die hässlichen Plattenbauten aus den 60ern werden abgerissen, während anmutige Gründerzeithäuser im Wert steigen. Der Mensch hält es nicht aus in einer hässlichen Welt. In schön gestalteten Stadtvierteln sinkt die Kriminalität und in hässlichen Schulen gibt es mehr Vandalismus.

In einer verzweckten Welt gilt es, die Schönheit wieder zu entdecken, um die Menschlichkeit nicht zu verlieren. Die Schönheit in einem Menschen sehen zu können, gerade auch in einem „unperfekten“, ist die Grundbedingung, ihn mit Würde und Respekt behandeln zu können. Deshalb rührt die Frage nach der Schönheit immer auch an die Frage nach dem Schöpfer. Gibt es jenseits aller Funktion tatsächlich Schönheit und Würde in der Schöpfung? Auch hier wieder könnte man viel von der ökologischen Bewegung lernen: Sie plädiert für den Eigenwert der Natur jenseits jeder Verzweckung für den Menschen. Nun gälte es, diese Erkenntnis auf den Menschen auszuweiten. Der Mensch ist letztendlich zweckfrei. Er ist erschaffen von einem Gott, der schön ist und ein Gegenüber sucht. Gottes Blick des Wohlgefallens auf seine Schöpfung („er sah, dass es sehr gut war“) ist die Daseinsberechtigung des Menschen. Indem er den Blick auf Gott erwidert, findet er nachhause. Die Quelle der Schönheit und die Lösung ihres Rätsels schenkt sich dem kontemplativen Blick.

Auferstehung des Herzens

Jesus ist nicht nur gekommen, um frei zu machen, sondern um „Schönheit statt Asche“ zu bringen (Jes 61, 3). Seine Angebot prallte ab an der Herzenshärte der Menschen. Wenn ein Ökosystem kollabiert, wird es tödlich. Durch die Sünde kamen Spaltung, Trennung, Sinnlosigkeit, Scham und das Hässliche in die Welt. Das Gegenteil der Herzensressourcen Verbundenheit, Sinn und Schönheit. Als es im Reaktor von Tschernobyl zur Kernschmelze gekommen war, wurde das Betreten des Areals tödlich. Eine weitere Ausbreitung der Katastrophe konnte nur durch den Einsatz einiger Feuerwehrmänner verhindert werden, deren Leichen bis heute unter dem Reaktorblock liegen. Als Jesus starb, geschah etwas Ähnliches. Sein Leben und seine Liebe jedoch waren stärker als die tödliche Verstrahlung des menschlichen Herzens. Seine Auferstehung sprengt das Verlies von innen. An die Stelle der Trennung von Gott tritt erneut Verbundenheit, in der tiefsten Sinnlosigkeit des Leidens und der Gottferne leuchtet auf einmal wieder Sinn auf, und auf dem zerschlagenen Antlitz des schändlich Ermordeten strahlt göttliche Schönheit auf. Das Evangelium verändert alles. Es eröffnet einen Weg zurück in eine heile Herzenswelt.

Nachhaltig mit Jesus

Und so kann Nachfolge Jesu nicht anders, als zu einem achtsamen, liebevollen Umgang mit den Herzensressourcen einzuladen. Die Bedeutung der familiären Bindung hochzuhalten. Den Wert der Treue. Die Verbundenheit mit Gott, aus der alles fließt. Und auch eine gesunde emotionale Verbindung zu sich selbst zu haben, von Geist, Seele und Leib. Nachhaltiger Umgang mit der Ressource „Sinn“ hat damit zu tun, furchtlos die Wahrheit zu sagen. Sich nicht zu verbiegen. Die Anbetung wieder zu entdecken und gegen die Banalisierung des Christlichen zu streiten.

Wir müssen Advokaten der Schönheit sein! Sie verteidigen gegen ihre Verzweckung. Gegen die Diktatur des lieblosen Mittelmaßes. Im digitalen Zeitalter gibt es der Ablenkungen viele. Es gilt, den ausgeruhten, kontemplativen Blick wieder zu erlernen und Zeiten des Medienfastens einzuüben. Seine Schönheit, seinen Wert und seinen Sinn entdeckt der Mensch in der Verbundenheit mit Gott: „Blickt auf zu ihm, so wird euer Gesicht leuchten und ihr braucht nicht zu erröten.“ (Ps 34, 6) Es ist Zeit für eine neue ökologische Bewegung.

Kurz gefasst
Die ökologische Bewegung ist in manchen ihrer Auswüchse von Verachtung des Menschlichen geprägt. Der Mensch ist aber eben nicht nur eine Spezies unter vielen. Wirklich nachhaltiges Denken ist sensibel für das menschliche Grundbedürfnis nach Verbundenheit, Sinn und Schönheit. Bewahren wir sie, bewahren wir die Ökologie des Herzens, welche den Menschen mit Gott verbindet.

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Johannes Hartl Alexander Solschenizyn Charles Taylor Familienpolitik Gottesvorstellung Jesus Christus

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