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Evangelisierung will den ganzen Menschen

Der Bischof von Görlitz blickt zurück auf die Kirche in der DDR - und wirbt für einen Primat der Evangelisierung.
Kirche in Nowa Huta
Foto: Hans Knapp | Kreuz vor dem Rohbau der Kirche Mutter Gottes, der Königin von Polen im Krakauer Stadtteil Nowa Huta, März 1973. (Aufnahmedatum unbekannt)

An den Beginn stelle ich einige biografische Erinnerungen, die aus meiner Sicht etwas mit unserem Thema zu tun haben. Ohne das Wort „Evangelisierung“ zu kennen, habe ich in meiner Kindheit und Jugend ganz praktisch damit zu tun gehabt. Ich bin in der früheren DDR aufgewachsen und war während der Schulzeit als Katholik meist allein oder höchstens zu zweit in der Klasse. Ich bin von zu Hause aus so erzogen worden, immer ehrlich zur eigenen Überzeugung zu stehen und sie nicht zu verstecken.

Durch die von der marxistischen Weltanschauung dominierte Schule kamen Christen natürlich mit ihrer Überzeugung darin immer wieder in Schwierigkeiten. Das Nein zur Jugendweihe und zur Mitgliedschaft in der FDJ aus christlichen Motiven, lockten meine Lehrer und Mitschüler oft genug heraus, nach den Gründen dafür zu fragen. So wurde ich bereits früh herausgefordert, über meinen Glauben zu sprechen, über die Begründungen für meine Entscheidungen, selbst wenn sie mir Nachteile und gewisse Schwierigkeiten einbrachten. Ich möchte diese Erfahrungen heute nicht missen. Ich habe in diesen Jahren gelernt, den eigenen Glauben als einen kostbaren Schatz anzusehen (vgl. Mt 13,44) und darüber auch mit anderen Menschen zu sprechen. Schon während der Abiturzeit und dann später im Theologiestudium stieß ich auf verschiedene Stellen aus der Heiligen Schrift, die diesen Weg unterstützten. Dazu gehört vor allem: „Fürchtet euch nicht vor ihnen und lasst euch nicht erschrecken, heiligt vielmehr in eurem Herzen Christus, den Herrn! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt.“ (1 Petr 3, 14b-15).

Neuevangelisierung: Neue Methoden und neuer Ausdruck

Im Jahr 1979, dem Jahr meiner Priesterweihe, hat meines Wissens Papst Johannes Paul II. zum ersten Mal das Wort „Neuevangelisierung“ in den Mund genommen. Es war dies am 09. Juni 1979 im Rahmen seiner ersten Reise in sein Heimatland Polen bei einer Predigt in Nowa Huta. Er wollte, dass das eine Evangelium für heute „in neuen Methoden, neuem Ausdruck und [mit] neuer Leidenschaft“ verkündet würde. Johannes Paul II. hat bereits zu dieser Zeit gesehen, dass es - in diesem Fall für seine polnische Heimat – darauf ankommen wird, sich nicht auf eine automatisch funktionierende Tradition und Weitergabe des Glaubens zu verlassen, sondern dass es darum geht, wirklich neue Wege der Verkündigung der frohen Botschaft zu finden und ernsthaft zu wählen.

Nach dem Ende des Kommunismus in allen Ländern Osteuropas wurde deutlich: Der Hauptgegner des Christentums – die marxistisch-leninistische Weltanschauung – war verschwunden. Würden die Christen jetzt in größerer Freiheit und mit größerer Gottesliebe ihren Glauben bezeugen? Würden sie sogar Menschen für Christus gewinnen und zu einem neuen Frühling des kirchlichen Lebens beitragen? Heute wissen wir: Die vollen Kirchen während der Zeit der friedlichen Revolution im Osten Deutschlands waren ein vorübergehendes Phänomen. Die christlichen Gemeinden haben damals einen unverzichtbaren Dienst geleistet – sie haben ihre Orte des Gebetes zur Verfügung gestellt, weil diese eine gewisse Sicherheit boten und sozusagen „neutraler Boden“ waren. 

"Wir Christen im Osten Deutschlands haben durch diese historische Erfahrung bereits gelernt,
dass Evangelisierung mehr ist als ein vorübergehendes Schutzsuchen in Kirchen
– neue  Evangelisierung will den ganzen Menschen einladen,
das Leben nach dem Vorbild Christi zu gestalten. Und das bedarf eines langen Atems." 

Rückblickend auf diese Zeit ist festzustellen: Wir Christen im Osten Deutschlands haben durch diese historische Erfahrung bereits gelernt, dass Evangelisierung mehr ist als ein vorübergehendes Schutzsuchen in Kirchen – neue  Evangelisierung will den ganzen Menschen einladen, das Leben nach dem Vorbild Christi zu gestalten. Und das bedarf eines langen Atems. 

Ich bin heute Bischof in einer Umgebung, in der die Christen insgesamt eine kleine Minderheit sind. Allein dadurch habe ich wie selbstverständlich fast täglich Kontakt mit Nichtchristen – in Gesprächen mit den Verantwortlichen in den Kommunen und Landesregierungen, aber auch im Alltag beim Einkaufen, in der Straßenbahn und im Bus. Mir begegnet immer großes Wohlwollen und eine grundsätzliche Offenheit. Unsere innerkirchlichen Probleme und Auseinandersetzungen spielen in Gesprächen mit Menschen, die nicht zu unserer Kirche gehören, kaum eine Rolle. Dagegen kommen häufig unvermittelt zentrale Fragen des Glaubens ins Spiel. 

Großes Wohlwollen und Offenheit

Ich persönlich möchte immer noch keine Chance verpassen, dem anderen etwas von der Hoffnung mitzuteilen, aus der ich lebe – nicht zuerst mit Worten, sondern durch meine Haltung, meine Hilfsbereitschaft und – wenn es nötig ist, auch mit Worten. 
Mir scheint, dass hier eines der Hindernisse für die neue Evangelisierung insbesondere in unserem Land liegt. Viele Christen verstecken ihren Glauben. Es fehlt ihnen oft auch die Sprache, darüber zu reden. Kirchliches Leben besteht in manchen Gegenden leider auch aus Traditionen, die sinnentleert sind. 

Darauf hat Papst Franziskus in seinem Brief an das pilgernde Gottesvolk vom 29. Juni 2019 aufmerksam gemacht, wenn er schreibt: „Heute indes stelle ich gemeinsam mit euch schmerzlich die zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens fest mit all dem, was dies nicht nur auf geistlicher, sondern auch auf sozialer und kultureller Ebene einschließt. Diese Situation lässt sich sichtbar feststellen, wie dies bereits Benedikt XVI. aufgezeigt hat, nicht nur ‚im Osten, wie wir wissen, wo ein Großteil der Bevölkerung nicht getauft ist und keinerlei Kontakt zur Kirche hat und oft Christus überhaupt nicht kennt‘, sondern sogar in sogenannten ‚traditionell katholischen Gebieten mit einem drastischen Rückgang der Besucher der Sonntagsmesse sowie beim Empfang der Sakramente‘.  Es ist dies ein sicherlich facettenreicher und weder bald noch leicht zu lösender Rückgang. Er verlangt ein ernsthaftes und bewusstes Herangehen und fordert uns in diesem geschichtlichen Moment wie jenen Bettler heraus, wenn auch wir das Wort des Apostels hören: ‚Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher! ‘ (Apg 3,6)“ 

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Den „Primat der neuen Evangelisierung“  für unser Land zurückzugewinnen, heißt zunächst bei uns selbst zu beginnen und neu mit der Botschaft des Evangeliums ernst zu machen. Wir wissen, dass die Glaubwürdigkeit der Kirche heute aus verschiedenen Gründen schwer beschädigt und das Vertrauen vor allem in die Hirten erschüttert ist. Deshalb geht es zunächst um eine Selbstevangelisierung – das heißt nicht zuletzt um wirkliche Bekehrung jedes Einzelnen zum Herrn. Das Sakrament der Umkehr – die Beichte – sollte dabei wieder eine zentrale Rolle spielen.

Scheinaktualismus führt zur Gleichgültigkeit

Das Selbstevangelisierung und Erneuerung des Glaubens bedeutet, hat kürzlich Kardinal Walter Kasper in einem Interview in der FAZ am 16. April 2020 so ausgedrückt: „Die Kirche hat keine andere Wahl, als sich einem Reformdiskurs zu stellen und die Krise als einen Kairós, das heißt als Chance eines Neuanfangs und einer Erneuerung zu begreifen. Natürlich kann man die Worte Neuanfang und Erneuerung, wie alles, auch falsch verstehen, indem man Neuanfang als Erneuerung versteht, die das Alte über Bord wirft und meint, die Kirche neu erfinden zu müssen. Wenn man ihr, statt sie neu zu profilieren, alle Ecken und Kanten abschleift und sie gegenwärtigen Plausibilitäten anpasst oder die gegenwärtige Pandemie-Krise für seine eigenen Ideen instrumentalisiert. Das bezeichne ich als Scheinaktualismus, der die Kirche nicht neu attraktiv, sondern letztlich ‚gleichgültig‘ macht. Wer vom Evangelium auch nur etwas verstanden hat, wird wissen, dass es immer ein Stachel im Fleisch sein wird und sein muss.“ 

Dieser Stachel des Evangeliums ist die Triebkraft der neuen Evangelisierung. Er lässt unser Herz brennen für eine Vertiefung des eigenen Glaubens, die nie aufhören darf, und macht uns Mut, unseren Glauben anderen vorzuschlagen und dazu einzuladen. Der synodale Weg der Kirche in Deutschland wird nur gelingen, wenn dadurch der Stachel des Evangeliums und seine Fremdheit mehr zum Leuchten gebracht werden. In einem Gespräch mit den Diözesanbischöfen Deutschlands  hat der emeritierte Bischof von Erfurt Dr. Joachim Wanke dieses Anliegen so zusammengefasst: „Unsere Kirche in Deutschland muss entschieden umdenken. So hart es klingt: Das Gewinnen neuer Christen hat prinzipiell Vorrang vor der ‚Bestandswahrung‘. Aus dem überkommenen Erbe muss ein neues Angebot werden. Aus der verbreiteten Unkenntnis dessen, was die Mitte der Nachfolge Christi als Lebensvollzug ausmacht, muss ein (intellektuelles und existentielles) Entdecken werden, das zu einer ‚Lebenswende‘ Mut macht.“  

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