Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Ukrainekrieg

Wie denken Russlanddeutsche über den russischen Angriffskrieg?

Wie denken Russlanddeutsche über den russischen Angriffkrieg? Das sagen Experten, die die Integration der Russlanddeutschen erforschen, dazu.
Demo von Russlanddeutschen gegen erfundene Vergewaltigung
Foto: Marc Eich (dpa) | Der Januar 2016 wirkt noch nach: Damals demonstrierten zahlreiche Russlanddeutsche wie hier in Villingen-Schwenningen, nachdem sich das Gerücht verbreitet hatte, ein 13-jähriges Mädchen russlanddeutscher Herkunft sei ...

Der Angriffskrieg auf die Ukraine wird auch zu einer Belastung für die in Deutschland lebenden Russlanddeutschen, jüdische Kontingentflüchtlinge und Russen. Sie erfahren vermehrt Anfeindungen wegen ihrer Wurzeln im russischsprachigen Raum. „Wir wollen Putins Krieg nicht in Deutschland“, erklärt Bernd Fabritius. Der Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV) war bis vor wenigen Tagen der Beauftragte der Bundesregierung für Spätaussiedler. „Gerade jetzt brauchen wir gesellschaftlichen Zusammenhalt und keine pauschale Diskriminierung und Ausgrenzung.“ Auch diese hier lebenden Menschen seien Opfer der Attacke Putins auf Freiheit und Frieden in Europa, da sie häufig in „gemischten Familien“ aus Russlanddeutschen, Russen und auch Ukrainern lebten und noch immer Verwandte in vielen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion hätten.

Ziel des Krieges: Gesellschaft spalten

Fabritius sieht unter Russlanddeutschen keinen Rückhalt für den Krieg in der Ukraine. „Die allermeisten Russlanddeutschen lehnen diesen menschenverachtenden Krieg – den sie als Bruderkrieg bezeichnen – ab“, erläutert er in einem Interview mit der „Welt“. Es gebe allerdings einzelne Akteure auf russischer Seite, die gezielt an dem Narrativ arbeiteten, seit Kriegsausbruch seien Russlanddeutsche und Russen in Deutschland nicht mehr sicher. „Zu ihnen zählt zum Beispiel die deutsch-russische Bruderschaft, ein Ableger von Wladimir Putins Motorradclub“, betont der BdV-Vorsitzende. „Die Russlanddeutschen wünschen sich, dass man anerkennt, dass der Ukraine-Krieg der Krieg Putins und der Russischen Föderation ist und nicht der Krieg der Russen.“

Lesen Sie auch:

Ein Ziel der hybriden Kriegsführung Putins sei es, die Gesellschaft zu spalten. Deswegen sei es erforderlich, tatsächliche Diffamierungen und Ausgrenzungen von gezielten Manipulationen und Täuschungsmanövern zu unterscheiden. „Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass es sich bei den allermeisten Vorfällen gerade nicht um Anfeindungen aus der Zivilgesellschaft, von Nachbarn oder Arbeitskollegen, handelt, sondern dass es gezielte Störungsaktionen sind.“ Er rät Betroffenen daher, bei Diffamierung zuerst genau zu prüfen, ob sie hier wirklich als Person gemeint seien und eine reale Person als Angreifer dahinterstehe. Sei dies der Fall, wäre eine strafrechtliche Verfolgung geboten. Sollte es sich aber erkennbar um eine gezielte, strategische Diffamierung zur Spaltung der Gesellschaft handeln, wünscht sich Fabritius, dass diese gerade nicht weiterverbreitet werde.

Der „Fall Lisa“ wirkt nach

Sonst mache man sich zum Gehilfen derart niederträchtiger Aktionen, wie im Fall „Lisa“. Damals, im Jahre 2016, war das Gerücht gestreut worden, eine 13-jährige Russlanddeutsche sei von Ausländern entführt und vergewaltigt worden. Allerdings war das Mädchen lediglich etwa 30 Stunden vermisst gewesen und danach unbeschadet wieder aufgetaucht. Auch damals warf der russische Außenminister Sergej Lawrow die Propagandamaschine an und forderte von den deutschen Behörden eine lückenlose Aufklärung.

Tausende Russlanddeutsche gingen auf die Straße und demonstrierten. Gegenüber der „Welt“ berichtet Fabritius von Hinweisen, dass Aufrufe zu prorussischen Demonstrationen oder Berichte über Übergriffe auf Russlanddeutsche von den gleichen Facebook-Accounts stammen wie im Fall „Lisa“.

Alten Wunden reißen auf

Auf der Homepage der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland wendet sich deren Bundesvorsitzender Johann Thießen an die Mitglieder und Landsleute: „Wir sind zutiefst bestürzt über die schrecklichen Ereignisse und Entwicklungen - nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland. Die Bilder des Grauens aus Butscha, Mariupol, Charkiw und vielen anderen Städte der Ukraine, aber auch von den Zuständen in Russland brechen uns das Herz und reißen bei vielen unserer Landsleute, die als Kinder die Schrecken des Krieges und der Flucht, die dunklen Zeiten der Repressionen und Diskriminierung erlebt haben, alte Wunden auf.“

Die Landsmannschaft verurteile aufs Schärfste die pro-russischen und pro-putinistischen Autokorsos und Demonstrationen, wie sie in Berlin, Würzburg, von Köln bis Bonn oder in Bad Kreuznach stattgefunden haben. „Wir finden solche Aktionen und das Auftreten dabei, angesichts der schrecklichen Bilder von Kriegsverbrechen seitens der russischen Armee, die uns täglich aus der Ukraine erreichen, äußerst unangemessen“, betont Thießen. Der Krieg in der Ukraine habe auch Auswirkungen auf die hier in Deutschland lebenden russischsprachigen und aus Russland stammenden Menschen. Immer wieder würden Fälle von Diskriminierungen und Anfeindungen bekannt. Man vertraue hier auf unseren Rechtsstaat. Auch Thießen warnt davor, überstürzte Schlussfolgerungen zu ziehen und auf Falschmeldungen reinzufallen. „Wir wollen es nicht zulassen, dass gezielt Stimmungen erzeugt werden, dadurch noch mehr Hass und Hetze geschürt werden, und dass sich Angst und Unsicherheit noch mehr verbreiten.“

Angst wird gezielt geschürt

Der Wiener Migrationsforscher Jannis Panagiotidis, der an der Universität Osnabrück lange zum Thema Integration der Russlanddeutschen geforscht hat, erläutert im Gespräch mit dieser Zeitung, dass sich die Situation aus seiner Sicht dynamisch entwickelt: „Am Anfang des Krieges waren die Unterstützer Putins noch leise. Jetzt kommen sie verstärkt aus der Deckung, wie man auf verschiedenen Demos sehen kann.“ Der Professor sieht sie nicht als  Mehrheit in den Communities, aber als eine lautstarke und zahlreiche Minderheit, die er bei bis zu einem Viertel einordnet. Andere wiederum engagierten sich für Flüchtlinge und seien gegen den Krieg.

Jannis Panagiotidis
Foto: Utz Lederbogen | Jannis Panagiotidis lehrt als Professor an der Universität Osnabrück und forscht zur Integration von Russlanddeutschen.

Es gebe aber jenseits des „Dafür" und „Dagegen" viel Verunsicherung wegen widersprüchlicher Informationen, die die Menschen einerseits aus russischen, andererseits aus deutschen Medien erhalten. Natürlich gebe es reale Vorfälle von Anfeindungen. Dazu finde man, so Panagiotidis, mittlerweile im deutschen TV – konkret in der Talkshow von Markus Lanz – auch offen rassistisches Gerede von „den Russen", die zwar „europäisch aussähen“, aber es nicht seien. Dazu kämen sehr viele Gerüchte, Manipulationen, Fakes. Diese zirkulierten in sozialen Netzwerken, oder Messenger-Gruppen und verbreiteten Angst. Es sei kein Zufall, dass die Demos das Thema „Diskriminierung" aufgriffen: „Diese Stimmung von Angst baut sich seit Wochen auf und wird offenbar auch gezielt geschürt.“

Vor allem in den Online-Netzwerken zirkuliere viel Information und Desinformation, oft in geschlossenen Gruppen und jenseits der öffentlichen Wahrnehmung. „Wer genau diese Sachen dort einspielt, ist nicht immer so klar, aber rechte russlanddeutsche Gruppen und Individuen scheinen hier eine Rolle zu spielen“, ergänzt Panagiotidis. Wie weit nach oben deren Verbindungen reichen, kann der Professor aber auch nicht sagen. Es bringe allerdings nichts, sich auf bestimmte Medien einzuschießen, wie zum Beispiel den Messenger-Dienst „Telegramm“. Schließlich sei dieses Medium auch für Ukrainer und für Oppositionelle in Russland oder Belarus, ein wichtiges Instrument, um Kontakte zu halten. Das dürfe man nicht vergessen.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Heinrich Wullhorst Angriffskriege Kriegsverbrechen Sergej Lawrow Wladimir Wladimirowitsch Putin

Weitere Artikel

Nicht nur militärisch, politisch und finanziell, auch psychisch droht der Abwehrkampf zur Überforderung zu geraten.
07.12.2023, 17 Uhr
Stephan Baier
Israels Regierungschef lehnt eine Zweistaatenlösung ab, doch seine Freunde in Amerika und Europa sehen nur diesen Weg zum Frieden.
24.01.2024, 18 Uhr
Stephan Baier

Kirche