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„Wahre Freundschaft auch in Krisenzeiten? Von wegen“

Wie geht es im Nahen Osten weiter? IDF-Sprecher Arye Sharuz Shalicar erläutert im Interview die israelischen Ziele. Von der Haltung Deutschlands ist er schockiert. Auch das jüdische Leben sieht er vom Mob auf deutschen Straßen bedroht.
07.10.2024, Berlin
Foto: IMAGO/Olaf Schuelke (www.imago-images.de) | Ist Deutschland die Freundschaft mit Israel mehr wert als eine hübsche Lichtinstallation? Daran bestehen Zweifel - angesichts der Situation auf deutschen Straßen, aber auch angesichts des Quasi-Waffenembargos, das ...

Herr Shalicar, zum Jahrestag des 7. Oktober 2023 wurden aus dem Gazastreifen wieder Raketen auf Israel abgeschossen, auch sind immer noch Geiseln dort gefangen. Der Hamas-Führer Yahya Sinwar lebt. Ist der Gaza-Krieg insgesamt ein Fehlschlag?

Der 7. Oktober war das größte Pogrom an Juden seit 1945. Das hat hier in Israel eine Wunde aufgerissen, die schon fast geschlossen war. Nur deshalb befinden wir uns seither im Einsatz, und dieser Einsatz ist eben ein Multi-Fronten-Krieg mit acht Kampfzonen: Gaza, Libanon, Syrien, Iran, Jemen, Irak, Westbank, und Israel. Das Glas ist dabei halb voll und halb leer. Wir haben 117 Geiseln befreien können. Die Bataillone der Hamas und ihre Terrorinfrastruktur wurden weitgehend zerstört. Wir haben Terrorköpfe eliminiert, auch der Hizbollah und darüber hinaus. Das ist das halb volle Glas. Auf der anderen Seite gibt es immer noch 101 Geiseln, die wir unbedingt zurückhaben wollen, und solange das nicht passiert, wird dieser Kampf kein Ende haben. Außerdem werden wir tagtäglich aus verschiedenen Richtungen angegriffen. Am Jahrestag regneten hier Raketen aus Gaza, dem Libanon und Jemen, das ist enorm! Aber die Zeit der Terroristen läuft ab.

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Gibt es denn einen Plan, wie es jetzt in Gaza weitergehen kann? Von der Bevölkerung wird die Befreiung der Geiseln ja weiterhin als oberste Priorität angesehen. Man hat aber nicht das Gefühl, dass sich in dieser Richtung viel tut.

Es gibt zwei Ziele, hinter denen in Israel alle stehen, der Staat, die Armee, die Bevölkerung: Die Geiseln müssen, auf welche Weise auch immer, befreit werden. Und die Menschen im Zentrum, aber auch im Süden und Norden Israels müssen wieder in Sicherheit in ihren eigenen vier Wänden leben können, ohne beschossen zu werden, ohne dass dort Terrorkommandos über die Grenze kommen und Massaker ausführen. Nach wie vor sind ja über 60.000 Israelis evakuiert, die nicht in ihre Häuser im Norden Israels zurückkönnen. Wir arbeiten an diesen beiden Zielen parallel.

Warum versucht man nicht stärker, zu einer Verhandlungslösung zu kommen?

Das Problem mit einem Deal mit Hamas ist die Hamas-Führung, allen voran Yahya Sinwar. Er will einem Abkommen nur nach seinen Vorstellungen zustimmen. Israel möchte erreichen, dass alle Geiseln mit einem Mal freigelassen werden, weil wir nicht wollen, dass diese Situation sich über Jahre hinzieht. Und dem stimmt er nach wie vor nicht zu. Das zweite Problem ist, dass Hamas an der Macht bleiben will. Nach dem, was sie am 7. Oktober getan haben, und nachdem sie auch gesagt haben, dass sie noch tausende derartige Massaker in Zukunft ausführen wollen, kann der Staat Israel die Hamas dort nicht an der Macht lassen.

Ist es denn wirklich realistisch, einfach alle Geiseln freikämpfen zu wollen?

Es gibt zwei Wege, um Geiseln freizubekommen. Der erste ist durch militärische Operationen, so wie wir es beispielsweise bei Noa Argamani geschafft haben – sie mit eigenen Händen aus den Tunneln oder den Wohnungen zu ziehen, das ist einige Male geglückt, aber auch einige Male nicht geglückt. Die andere Variante ist, nicht durch konkrete Operationen, sondern durch den militärischen Druck insgesamt die Gegenseite dazu zu bringen, dass sie einlenkt. Das ist uns im November geglückt, wo es tatsächlich zu einer Geiselfreilassung im Austausch für die Freilassung palästinensischer Terroristen sowie im Gegenzug zu einer Waffenruhe kam – die allerdings ihrerseits leider nach sechs Tagen durch die Hamas gebrochen wurde, als sie wieder mit Raketenbeschuss auf Israel fortfuhr.

Seit dem iranischen Raketenangriff auf Israel am 1. Oktober wartet die Welt mehr oder weniger bangend auf den israelischen Gegenschlag. Gibt es dazu schon spruchreife Informationen?

Das islamische Mullahregime in Iran ist so etwas wie die Dachorganisation aller Terrorgruppen, die uns beschießen und angreifen. Und deswegen ist der Iran eigentlich unser Hauptproblem. Es gilt abzuwarten, wie es in dieser Richtung weitergeht, aber es führt kein Weg daran vorbei, auch den Kopf der Schlange irgendwann direkt zu adressieren.

Was ist damit gemeint – Personen oder militärische Ziele?

Das Regime. Wir müssen es da treffen, wo es schmerzt. Wie genau, weiß ich nicht. Aber das ist alternativlos.

Mittlerweile hat die israelische Armee auch eine Bodenoffensive in den Libanon gestartet. Was sind die Ziele dort – und wie wird sich das auf die Christen in der Region auswirken?

Im Libanon gibt es drei Hizbollah-Schwerpunkte, die wir angreifen: den Süden Libanons, insbesondere südlich des Litani-Flusses, dann die Bekaa-Region an der Grenze zu Syrien, von wo auch vom Iran Waffen in den Libanon geschmuggelt werden, und drittens Dahieh, der Hizbollah-kontrollierte Stadtteil von Beirut. Was Israel im Süden Libanons eigentlich will, ist, dass die Resolutionen 1559 und 1701 des UN-Sicherheitsrats zustande kommen (diese sehen die Entwaffnung und den Abzug aller Milizen zumindest aus der Gegend südlich des Litani-Flusses vor, Anm. d. Red.). Leider hat die UN in den letzten 20 Jahren nichts dafür getan, die Hizbollah in die Schranken zu weisen, die täglich gegen diese zwei Resolutionen verstößt.

„Man kann sagen, dass die Hamas der Hizbollah vor einem Jahr zuvorgekommen ist“

Der Süden des Libanons ist größtenteils schiitisch. Es gibt auch christliche Dörfer, Sunniten und Drusen, aber die Hizbollah hat im Süden alle Dörfer infiltriert. Natürlich sind deren Raketen-Abschussrampen in erster Linie in den schiitischen Dörfern positioniert, aber auch sunnitische und christliche Dörfer werden von der Hizbollah missbraucht. Jedes zweite oder dritte Haus wird von der Hizbollah benutzt. Da werden im Wohnzimmer Raketen gebunkert, in der Küche gibt es Tunneleingänge, im Kinderzimmer lagert Munition – leider eben nicht nur in schiitischen Dörfern. Seit ungefähr einer Woche versuchen wir in einer begrenzten Bodenoffensive, besonders auf den ersten Kilometern, die Hizbollah-Infrastruktur zu finden und zu zerstören. Von dieser Infrastruktur aus, das hat Hassan Nasrallah auch offen gesagt, hatte die Hizbollah vor, nach Israel einzudringen, und ein ähnliches Massaker wie am 7. Oktober durchzuführen. Man kann sagen, dass die Hamas der Hizbollah vor einem Jahr zuvorgekommen ist. Auch nach der Eliminierung der Hizbollah-Elite werden die Terroristen versuchen, so etwas durchzuführen.

Braucht es da nicht eine dauerhafte israelische Präsenz, um so etwas zukünftig zu verhindern? Wie sieht die Exit-Strategie aus?

Unser Wunsch ist, dass es zur Ruhe kommt. Aber Ruhe wird es erst geben, wenn die Hizbollah wirklich die UN-Resolutionen einhält, die besagen, dass sie südlich des Litani-Flusses nichts zu suchen haben. Deswegen wurde ja auch die UNIFIL-Mission eingerichtet, tausende westlicher und östlicher Soldaten wurden dort stationiert, um – angeblich – für Ordnung zu sorgen. Aber das haben sie eben nicht getan, stattdessen hat die Hizbollah aufgerüstet. Und jetzt haben wir den Quark, dass seit einem Jahr Raketen und Drohnen aus dem Libanon abgefeuert werden, bisher 10.000!

Die christlichen Libanesen, aber auch die palästinensischen Christen in Israel, die ja durchaus unter der Hizbollah und der Hamas zu leiden haben, sind in ihrer Sympathie bzw. Loyalität gespalten. Warum eigentlich? Müssten nicht wenigstens die Christen im Heiligen Land froh darüber sein, unter den Segnungen der israelischen Demokratie zu leben?

Ja, die arabischen Christen hier in der Region sind gespalten. Ich selbst kenne einige, die in der israelischen Armee dienen und mit vollem Stolz die israelische Fahne im Zimmer hängen haben. Es gibt aber auch arabische Christen, die sich in erster Linie als Araber wahrnehmen, und sich, auch weil sie die arabische Sprache sprechen, in erster Linie mit den Palästinensern identifizieren. Die sind leider anfällig für antisemitische Propaganda, die sich seit Jahrzehnten nicht nur in palästinensischen Schulbüchern wiederfindet, sondern auch massiv vom Iran und auch von den Türken verbreitet wird. Auch arabische Staaten setzen seit Jahrzehnten ein ganz bestimmtes Narrativ in die Köpfe jeder neuen Generation. Und die arabischen Christen haben diese Propaganda aufgesogen.

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Sie sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Welchen Eindruck haben Sie von der deutschen Haltung zu Israel seit dem 7. Oktober?

Ich finde, wer sich als Deutscher „nie wieder“ auf die Fahnen schreibt und in dem Zusammenhang von Staatsräson spricht, hat eine besondere Verpflichtung vis-a-vis den Juden und dem Staat Israel. Meiner ganz persönlichen Meinung nach kommt Deutschland dieser Verpflichtung nicht nach. Das sehen wir an verschiedenen Beispielen: einerseits, wenn wir das UN-Abstimmungsverhalten Deutschlands anschauen, andererseits aber auch mit Blick auf das „stille Waffenembargo“ Deutschlands gegenüber Israel. Das ist natürlich schockierend! Der jüdische Staat in seiner schwersten Stunde wird ausgerechnet von Deutschland in Sachen Rüstung im Stich gelassen.

Wie sehr schränkt die zuletzt starke Einschränkung der Waffenlieferungen das israelische Militär ein?

Wir werden unsere Feinde mit und ohne deutsche Waffen da treffen, wo es weh tut. Aber am Ende wird dieses Verhalten einen dunklen Fleck auf dem deutschen Gewissen hinterlassen. Wahre Freundschaft auch in Krisenzeiten? Von wegen. Das ist eine bittere Realität, ich bin auch als ehemaliger Wehrdienstleistender in der Bundeswehr sehr enttäuscht, dass Deutschland, dass die deutsche Regierung hier kein Rückgrat zeigt und nicht zu den eigenen Ansprüchen steht. Deutschland müsste wirklich das Land sein, das Israel an erster Stelle Rückendeckung gibt.

Anlass zu Zweifeln bietet in dieser Hinsicht auch die deutsche Gesellschaft…

Ja, ein weiterer Punkt ist das jüdische Leben in Deutschland. Der terrorunterstützende Mob auf deutschen Straßen hat nicht nur ein Problem mit Israel, sondern greift auch Juden in Deutschland an. Und da muss man ganz klar sagen, dass leider radikalisierte Muslime in Deutschland mittlerweile ein großes Sicherheitsproblem darstellen. In nicht wenigen deutschen Städten müssen Juden ihre Kinder aus den Schulen rausnehmen, weil sie nicht mehr sicher sind.

Wenigstens bis zum 7. Oktober letzten Jahres war es auch tabubesetzt, das Problem des muslimischen Antisemitismus zu thematisieren.

Also die Frage ist letztlich, was meint Deutschland mit „Staatsräson“? Was versteht die junge Generation unter „nie wieder“? Solidarisiert sich Deutschland in erster Linie mit toten Juden in Deutschland, oder endlich auch mal mit lebenden, sich zur Wehr setzenden Juden? Man nimmt eben oft nicht wahr, was in der Migrantencommunity so wirklich läuft. Solange es einen nicht selbst betrifft, juckt es einen weniger. Aber mittlerweile sind radikalisierte antisemitische Ausschreitungen in Deutschland an der Tagesordnung. Und diese Leute greifen am Ende nicht nur Juden an, sondern auch deutsche Nichtjuden, die sich mit Juden solidarisieren, sie greifen Polizei und Medien an. Das ist aus meiner Sicht wirklich eine Gefahr für die innere Sicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland.

Arye Sharuz Shalicar
Foto: privat

Arye Sharuz Shalicar ist derzeit Sprecher der Israelischen Armee (IDF). Der in Göttingen geborene und in Berlin aufgewachsene Sohn iranischer Juden wanderte 2001 nach Israel aus. Sein Podcast „Nahost-Pulverfass“ zum Krieg in Israel lässt sich unter anderem hier anhören. 

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