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Victor Andrusiv: „Eine große Krise kommt“

Dennoch setzt die Ukraine auf einen Sieg. Und darauf, dass Putin seine Truppen auf die Ausgangslage vom 23. Februar zurückzieht, erklärt der Politikberater Victor Andrusiv im Gespräch.
Victor Andrusiv
Foto: Privat | Victor Andrusiv ist Ministerialdirektor im ukrainischen Innenministerium und arbeitet im Stab des Büroleiters des Staatspräsidenten.

Herr Andrusiv, der Kreml war in den ersten drei Monaten des Kriegs von der Kampfkraft der ukrainischen Armee ebenso überrascht wie von der geschlossenen Ablehnung der ukrainischen Bevölkerung. Hat sich beides seit 2014 maßgeblich gesteigert?

Ich denke, dass wir zum ersten Mal eine umfassende Unterstützung unserer Armee und unseres Präsidenten Selenskyj durch 90 Prozent des Landes erleben. Das hat es in tausend Jahren nicht gegeben. Es liegt daran, dass selbst die russischsprachigen Menschen von der Gewalt der russischen Armee schockiert sind. Jetzt sind wir unabhängig vereint durch unsere Sprache und Geschichte.

"Es gibt keine andere Antwort als den Sieg. Wir sollten kämpfen,
bis die Russen aufhören und die Ukraine verlassen"

Russland scheint auf einen langen Abnützungskrieg zu setzen, auf Verwüstung und maximale Zerstörung. Wie kann die Ukraine darauf politisch und militärisch reagieren?

Es gibt keine andere Antwort als den Sieg. Wir sollten kämpfen, bis die Russen aufhören und die Ukraine verlassen. Dafür brauchen wir eine Menge Munition, denn wir kämpfen gegen eine der größten Armeen der Welt. In dieser Hinsicht ist die Position der deutschen Bundesregierung absolut enttäuschend. Jedes Dorf, jede Stadt, die unsere Armee retten kann, bedeutet Hunderte von Frauen, die wir vor Vergewaltigungen retten, Kinder, deren Leben wir bewahren. Unsere Armee braucht Waffen, um unser Volk zu schützen.

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Wie lange kann die Ukraine militärisch und politisch Widerstand leisten, wenn Moskau auf einen langfristigen Krieg ohne Rücksicht auf eigene Verluste setzt?

Wir haben keine andere Wahl, als zu kämpfen. Wir werden so viele Soldaten wie nötig rekrutieren. Sicher ist die Situation hinsichtlich der Flüchtlinge und der Wirtschaft katastrophal. Doch solange wir glauben, dass die Russen noch einmal verüben könnten, was in Butscha geschehen ist, hören wir niemals auf, bis wir gesiegt haben.

Wie lange kann die Bevölkerung noch ausharren? Wie sieht es mit ihrer Versorgung und psychischen Stabilität aus?

In den nächsten Monaten kommt eine große Krise auf uns zu. Wir haben ausreichend Lebensmittel, aber uns fehlt Benzin. Die erschwerte Logistik wird die Preise in die Höhe treiben. Wir haben ein großes Haushaltsdefizit und werden viele gesellschaftliche Bedürfnisse nicht stillen können. Wir hoffen auf die finanzielle Unterstützung durch den Westen, auch wenn ich aktuell keine Zugeständnisse sehe. Wir geben jeden Monat über zehn Milliarden US-Dollar für den Krieg aus. Die Menschen sind erschöpft, aber wir haben keine andere Chance, als zu kämpfen.

"Russland muss zur Ausgangslage vom 23. Februar zurückkehren.
Das ist der einzige Ansatz, über den wir nachdenken"

Was wäre für die ukrainische Politik eine akzeptable Voraussetzung für einen Waffenstillstand: der Status quo vom 23. Februar oder auch der Verlust von Donezk und Luhansk?

Russland muss zur Ausgangslage vom 23. Februar zurückkehren. Das ist der einzige Ansatz, über den wir nachdenken. Nur wenn das geschieht, können die Verhandlungen über ein zukünftiges Friedensabkommen beginnen. Wir können auf den NATO-Beitritt verzichten, aber die Krim, Donezk oder Luhansk können wir nicht als Volksrepubliken anerkennen.

Gibt es im Donbass Sympathien oder Formen der Kollaboration mit den russischen Truppen?

Kaum. Die Russen haben so viel zerstört, dass die Bevölkerung sie nicht unterstützen kann. Allerdings fürchten sich die Leute davor, ihre Position zu zeigen.

Die russische Armee soll bereits mehr als eine Million Ukrainer nach Russland deportiert haben. Wozu? Was geschieht mit diesen Menschen?

Ukraine-Krieg -Butscha
Foto: Natacha Pisarenko (AP) | Eine Frau reinigt in Butscha ihr Fenster an einem Haus, das durch Granatenbeschuss beschädigt worden ist.

Sie schicken sie nach Sibirien oder Wladiwostok. Das sind dünn besiedelte Regionen, wo viele Chinesen hinkommen. Deshalb vermute ich, dass die Russen versuchen, ein Gleichgewicht zur chinesischen Bevölkerung herzustellen.

Die russischen Truppen stehlen nicht nur ukrainische Kunstschätze, sondern zerstören auch viele. Mit welcher Absicht?

Sie sind Barbaren. Die meisten der russischen Soldaten kommen aus sehr armen Regionen und hatten nie Kontakt mit der Zivilisation. Mord, Raub und Vergewaltigungen sind normal für sie. Sie kennen keine Kunst.

Wie geschlossen ist die ukrainische Staats- und Armeeführung in ihrer politischen und militärischen Strategie?

Die politischen Führer haben die Verantwortung für militärische Operationen in die Hände der Spitzen der Armee gegeben. Walerij Saluschnyj, der Oberkommandierende unserer Streitkräfte, hat alle Handlungsvollmachten. Unsere Strategie ist es, den Russen so viele Verluste wie möglich zuzufügen. Schon jetzt haben sie so viele Soldaten verloren wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.

Beobachter führen die ukrainische Widerstandsfähigkeit darauf zurück, dass sie dezentral und regional organisiert sei, die russische Offensive dagegen zentralistisch. Wie ist das zu verstehen?

Dezentralisiert bedeutet, dass politische Führer sich nicht in militärische Operationen einmischen. Außerdem haben unsere Kommandierenden im Feld das Recht, nach ihrem besten Urteil zu planen und zu handeln. Gleichzeitig sind wir eine sehr freie Gesellschaft. Die große Freiwilligenbewegung, die unsere Armee unterstützt, beweist das.


Aus dem Englischen übersetzt von Sally-Jo Durney.

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