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„Sie legt zurecht den Finger in die Wunde"

Die Juristin Brosius-Gersdorf verweist auf einen ungelösten Verfassungskonflikt. Doch ihr Lösungsvorschlag vergrößert die Widersprüche in unserer Rechtsordnung nur. Ein Debattenbeitrag.
Brosius-Gersdorf in der Talkshow von Markus Lanz
Foto: IMAGO/teutopress GmbH (www.imago-images.de) | Frauke Brosius-Gersdorf ist, wie sie selbst bei Markus Lanz andeutet, eine Frau der klaren Worte. Sie legt, und dafür kann man ihr dankbar sein, zurecht den Finger in die Wunde unserer Rechtsordnung.

Es wurde in den letzten Tagen viel geschrieben zu der kurzfristig abgesagten Wahl von Richtern für das Bundesverfassungsgericht. Wir erinnern uns: Am 11. Juli sollten die drei vom Wahlausschuss nominierten Kandidaten mit Zwei-Drittel-Mehrheit vom Bundestag ans höchste deutsche Gericht entsandt werden.

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Unter den Unionsabgeordneten gab es jedoch wachsenden Unmut über eine der beiden Kandidatinnen, die von der SPD vorgeschlagen worden waren, die Jura-Professorin Frauke Brosius-Gersdorf. Die Kritik an der Potsdamer Staatsrechtlerin und insbesondere an ihrer Position zum Thema Menschenwürde und Abtreibung wurde zuletzt so stark, dass die notwendige Mehrheit im Parlament nicht mehr sicher schien.

Rechtsordnung zum Schwangerschaftskonflikt widersprüchlich und inkonsistent

Es gäbe viel zu sagen zu der Personalie ebenso wie zu dem teilweise haarsträubenden Agieren und Reagieren im politischen Berlin. Am vergangenen Dienstag hatte sich Brosius-Gersdorf auch selbst zu Wort gemeldet. Ihre schriftliche Stellungnahme sowie ihr im Fernsehen übertragenes Gespräch mit Markus Lanz waren recht aufschlussreich und bieten Anlass, einen Aspekt ihrer Ausführungen aufzugreifen, der meines Erachtens Aufmerksamkeit verdient. Mir scheint nämlich: Die Potsdamer Dozentin hat einen Punkt.

Worum geht es? Brosius-Gersdorf weist auf einen ungelösten Verfassungskonflikt hin, der oft nicht ausreichend gewürdigt wird. Unsere derzeitige Rechtsordnung, so die Juristin, sei beim Thema Schwangerschaftskonflikt widersprüchlich und inkonsistent. Die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in seinem wegweisenden Urteil von 1993, der Mensch besitze von Anfang an und schon vor seiner Geburt Würde im Sinne des Grundgesetzes, passe nicht zur geltenden Abtreibungsregelung.

Um diesen Widerspruch zu verstehen, muss man sich die besondere Rolle der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie nach Artikel 1 vor Augen halten. Diese unterscheidet sich nach allgemeinem Konsens von den ab Artikel 2 aufgeführten Grundrechten in einem sehr wichtigen Punkt: Die Menschenwürde ist „unantastbar“, das heißt, sie darf in keiner Weise kompromittiert oder relativiert werden, etwa durch Abwägung mit anderen Gesichtspunkten. Während alle Grundrechte im berechtigten Einzelfall eingeschränkt werden können, ist die Menschenwürde als solche nicht „abwägbar“, sie gilt immer und uneingeschränkt.

...dann wäre ein Schwangerschaftsabbruch unter keinen Umständen zulässig

Wenn dem so ist und die Menschenwürde auch dem Ungeborenen zukommt, dann aber lässt sich seine Tötung in keinem Fall rechtfertigen, weil „Leben Leben nicht weichen muss“, wie Brosius-Gersdorf im Fernsehgespräch unterstreicht. „Niemand muss sein Leben für das Leben eines anderen aufopfern. Das muss nicht die Schwangere, aber das muss auch nicht der Embryo.“ Wenn man dem Baby im Mutterleib die Menschenwürdegarantie zuerkennt, dann wäre, wie die Juraprofessorin schreibt, „ein Schwangerschaftsabbruch unter keinen Umständen zulässig“.

Raphael Edert
Foto: privat | Raphael Edert (*1978) leitet die Fachstelle Theologische Bildung und Neuevangelisierung in der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Regensburg.

Warum? Ganz einfach: Einen unschuldigen Menschen vorsätzlich zu töten, ob als Mittel oder als Ziel, verstößt generell und immer gegen seine Menschenwürde. So auch das Bundesverfassungsgericht in einem anderen Fall, der nichts mit dem Thema Abtreibung zu tun hatte: Im Zusammenhang mit dem sogenannten Luftsicherheitsgesetz entschied Karlsruhe 2006, dass es mit dem Schutz der Menschenwürde unvereinbar ist, Leben gegen Leben aufzurechnen und die „tatunbeteiligten“, unschuldigen Menschen in einem von Terroristen entführten Flugzeug einfach abzuschießen.

„Man muss sich ehrlich machen“, fordert Brosius-Gersdorf bei Markus Lanz. Recht hat sie! Ihre Analyse ist klar: Wenn wir von der Menschenwürde ungeborener Kinder ausgehen, kann Abtreibung nur als großes Unrecht betrachtet werden, das niemals gerechtfertigt werden kann. Was folgt daraus? Die gängige Vorstellung von einer Güterabwägung, bei der sich die Interessen des Ungeborenen regelmäßig denen der Mutter unterzuordnen haben, widerspricht der Menschenwürdeidee unseres Grundgesetzes.

Ein gewisses Lebensrecht ja, aber keine unantastbare Menschenwürde

Es sei denn man spricht dem Ungeborenen einfach die Menschenwürde ab. Und für ebendiesen Weg entscheidet sich Brosius-Gersdorf. Sie löst den verfassungsrechtlichen Widerspruch nicht dadurch auf, dass sie die geltende Rechtslage in Sachen Abtreibung auf ihre Verfassungsgemäßheit hinterfragt und gegebenenfalls entsprechende Anpassungen fordert, sondern sie setzt die Legitimität von Abtreibungen voraus und bezweifelt umgekehrt die vom Bundesverfassungsgericht bekräftigte Menschenwürde Ungeborener. Ein gewisses Lebensrecht ja, in Abwägung mit den Rechten der Mutter, aber keine unantastbare Menschenwürde.

Der erste Artikel unseres Grundgesetzes ist von der Überzeugung geprägt, dass die Menschenwürde nicht von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten oder sonstigen Gegebenheiten abhängt. Sie gilt für jeden von uns, einfach nur weil wir Menschen sind, unabhängig von Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand und Herkunft, ja sie gilt sogar für abscheuliche Verbrecher (man denke an das prinzipielle Folterverbot).

Wir blicken heute zurecht mit Unverständnis und Zorn auf vergangene Jahrhunderte, in denen bestimmten Menschengruppen die Würde systematisch abgesprochen wurde. Es schockiert uns, dass Sklaverei in vielen früheren und vermeintlich „zivilisierten“ Gesellschaften als normal galt. Menschen wurden wie Sachen behandelt, gekauft und verkauft.

Wie werden kommende Generationen über unsere heutige Gesellschaft urteilen? Ich bin überzeugt, dass eine Zeit kommen wird, in der man fassungslos zurückblicken und sich fragen wird, wie wir es, ohne mit der Wimper zu zucken, fertigbringen konnten, den Ungeboren systematisch ihre Würde abzusprechen, fast so, als seien es Sachen. Sind ungeborene Babys keine Menschen?

Eine Frau klarer Worte

Frauke Brosius-Gersdorf ist, wie sie selbst bei Markus Lanz andeutet, eine Frau der klaren Worte. Sie legt, und dafür kann man ihr dankbar sein, zurecht den Finger in die Wunde unserer Rechtsordnung. Diese Fähigkeit und ihre allgemein anerkannte Fachkompetenz machen sie zu einer weithin geschätzten Juristin und Dozentin.

Ihre entschiedene Infragestellung der Würde ungeborener Menschen jedoch lassen sie nichtsdestoweniger ungeeignet erscheinen, ebendiese Menschenwürde als Richterin am Bundesverfassungsgericht zu verteidigen. Mit ihrem Versuch, das verfassungsrechtliche Dilemma zwischen der Menschenwürdegarantie für ungeborene Kinder und der geltenden Abtreibungsregelung aufzulösen, würde sie die Widersprüche in unserer Rechtsordnung nur noch vergrößern.

Die Wahl von Richtern für das Bundesverfassungsgericht ist eine immens wichtige Entscheidung, denn sie prägt unsere Rechtsordnung unter Umständen auf Jahre und Jahrzehnte. Noch wichtiger als diese Personalie ist allerdings die Frage, ob wir als Gesellschaft die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes mit Leben erfüllen – oder nicht. Der umfassenden Unterstützung von Schwangeren in herausfordernden Situationen kommt dabei eine große Bedeutung zu.

Am Ende stehen wir alle in der Pflicht. Und vor der Frage: Sag, wie hältst du’s mit der Menschenwürde?


Der Autor leitet die Fachstelle Theologische Bildung und Neuevangelisierung in der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Regensburg.

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