Bei den Grünen scheint dieser Tage von der Social-Media-Kampagne mit ihren kumpeligen Küchentisch-Videos bis zur unkompliziert-spontanen politischen Kreativabteilung – neuester Vorschlag sind bekanntlich Sozialabgaben auf Kapitalerträge (Details egal) – alles perfekt auf den Kanzlerkandidaten Robert Habeck abgestimmt. Offenbar mit Erfolg: Habeck, der einer Forsa-Umfrage vom Oktober zufolge von den Bürgern als „sympathisch, aber inkompetent“ wahrgenommen wird, steht aktuell im Zufriedenheitsranking der Kanzlerkandidaten sogar an der Spitze. Wäre es da nicht logischer, Habecks pünktlich zum Wahlkampf erscheinendes Buch „den Bach rauf“ unter die Lupe zu nehmen, als den Entwurf des grünen Wahlprogramms, den die Partei vier Wochen vor der Wahl beschließen will?
Möglich, aber auch „Zusammen wachsen“, das „Regierungsprogramm 2025“ der Grünen, versprüht in der vorliegenden Entwurfsversion reichlich autosuggestiven Charme. Positiv denken, das scheint hier wie dort die an Regierungsvorhaben wie dem „Gute-Kita-Gesetz“ gestählte Stilvision zu sein. Immerhin taucht das Wörtchen „gut“ auf 70 Seiten 120 mal auf – ein Spitzenwert in der Programmliteratur 2025.
Demokratieförderung und Kirchenasyl
Können auch Katholiken an das Gute in der grünen Politik glauben? Zumindest bietet die Programmlektüre Zeugnisse guten Willens gegenüber den christlichen Kirchen. „Wir würdigen den Beitrag der Kirchen sowie der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zum demokratischen und sozialen Zusammenhalt“, schreiben die Grünen zum Thema „lebendige Demokratie“.
Der Satz darf sicherlich auch als freundliche Quittung für die Beteiligung der Kirchen an der „Demokratieförderung“ verstanden werden. Auch auf der ganz konkreten Ebene herrscht bei den Grünen das Verständnis, dass eine „demokratische Zivilgesellschaft“ durch staatliche Finanzierung wenn nicht hergestellt, so doch mindestens „geschützt“ werden kann. Die Kirchen beteiligen sich an dieser Vision bekanntlich mit diversen Initiativen, die im weitesten Sinne als Erwachsenenbildung gelten können. Dafür werden kirchlicherseits Gelder unter anderem aus dem „Demokratie leben!“-Projekt in Anspruch genommen. Letzteres wollen die Grünen „mit einem Demokratiefördergesetz absichern“, das es in der noch laufenden Legislaturperiode nur bis zur 1. Lesung im Bundestag geschafft hatte: aus Perspektive des kirchlichen Apparats sicherlich eine gute Sache.
Ansonsten tauchen die Kirchen im Grünenprogramm noch ein weiteres Mal explizit auf, beim Kirchenasyl. Das nämlich wollen die Grünen verteidigen, genau wie das Asylrecht allgemein. Zwar hat auch die parteiintern nicht nur geliebte Formel „Humanität und Ordnung“ den Weg in das Programm gefunden, im Allgemeinen liegt der Fokus aber eher auf der Humanität. Menschenrechte müssten überall, auch an den EU-Außengrenzen eingehalten werden, auch das Recht auf Einzelfallprüfungen und das Nichtzurückweisungsgebot „gelten immer und überall“, schreiben die Grünen. Auslagerungen von Verfahren in Drittstaaten lehnt die Partei ab, Familiennachzug will sie „ermöglichen und existierende Einschränkungen aufheben“.
Mehr Elterngeld, mehr Paternalismus
Gefallen finden dürfte bei katholischen Würdenträgern auch die Betonung des Klimaschutzes, von dem sich die Grünen allerlei positive Effekte erwarten, das Beharren auf multilateraler Zusammenarbeit und – im Vatikan sicher gern gehört – das Vorhaben von „Schuldenrestrukturierungen und -erlasse(n)“ für besonders belastete Länder des Globalen Südens.
Doch was haben die Grünen für deutsche Ottonormalchristen im Angebot? Wer Kinder hat, dürfte sich gegebenenfalls über die Ankündigung freuen, die Erhöhung des Kindergeldes perspektivisch an die Entwicklung des Kinderfreibetrages zu koppeln. Die in dieser Legislaturperiode gescheiterte, weil zu bürokratische und teure Kindergrundsicherung soll weiterverfolgt werden. Das Elterngeld wollen die Grünen von maximal 1800 auf maximal 2400 Euro spürbar erhöhen und dabei Anreize für eine „partnerschaftliche Aufteilung“ setzen. Denn: „Mit dem Start ins Familienleben stellen viele Paare bereits die Weichen für die spätere Aufgabenteilung. Teilen sich Eltern ihre Elternzeit gerecht auf, setzt sich das häufig später auch in der familiären Aufgabenverteilung fort.“ Details gibt es hierzu allerdings keine. „Eltern und Co-Müttern“ wollen die Grünen ermöglichen, die ersten zwei Wochen nach Geburt des Kindes „mit einer Lohnersatzleistung“ daheimzubleiben. Auch Selbstständige sollen rund um die Geburt ein „Mutterschaftsgeld“ erhalten, und sich dafür an einer Umlagefinanzierung beteiligen.
„Wenn alle Frauen mit Kindern so arbeiten könnten, wie sie möchten, hätten wir in Deutschland bis zu 840.000 zusätzliche Arbeitskräfte“, so die geschickt formulierte These der Grünen, den Eindruck allzu platter paternalistischer Gesellschaftssteuerung will man scheinbar vermeiden. Ein „gutes und verlässliches Angebot an Betreuungsplätzen“ sei eine Grundlage, zusätzlich jedoch wolle man das Ehegattensplitting „grundlegend geschlechtergerecht reformieren“, da es derzeit ein „Erwerbshindernis für Frauen“ sei. Für „Neuehen“ schlagen die Grünen die Einführung einer „individuellen Besteuerung mit übertragbarem Grundfreibetrag“ vor.
Da, wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen
Auch für die Zeit nach der gesellschaftspolitisch durchaus sehr produktiven „Fortschrittskoalition“ erkennen die Grünen jede Menge identitätspolitischen Steuerungsbedarf. Die Antidiskriminierungsarbeit diverser Bundesbeauftragter soll genauso wie „queeres Leben“ ganz allgemein gestärkt werden (das Wort „stärken“ findet sich übrigens 92 Mal im Programm). Wie auch andere Parteien wollen die Grünen die Diskriminierung aufgrund sexueller Identität grundgesetzlich verbieten, die Erfassung queerfeindlicher Straftaten soll verbessert werden. Da Familie da sei, „wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen“, gelte es, das Familienrecht anzupassen und „schnellstmöglich die Diskriminierung von Regenbogenfamilien im Abstammungsrecht“ zu beenden. Dabei wollen die Grünen „die Elternschaft von trans*, inter* und nicht binären Menschen“ berücksichtigen. Auch „die rechtliche Situation von Familien mit mehr als zwei Eltern“ soll verbessert werden.
Bei medizinischen Maßnahmen im Zusammenhang mit Geschlechtstransitionen soll es einen Rechtsanspruch auf Kostenübernahme durch die Krankenkassen geben. Gleichzeitig wollen die Grünen Gesetzeslücken schließen, „um nicht notwendige Operationen an intergeschlechtlichen Kindern zu verbieten“. Auch „Lücken beim Verbot sogenannter Konversionstherapien“ sollen geschlossen werden, ein „diskriminierungsfreier Zugang zu reproduktionsmedizinischen Leistungen für alle“ steht eben so im Forderungskatalog; Leihmutterschaft findet keine Erwähnung.
Wollen die Grünen §188 StGB noch verschärfen?
Begleitend zu all dem forcierten Fortschritt schwebt den Grünen eine noch härtere Gangart gegenüber übler Nachrede, „Verleumdungen und Bedrohungen“ vor, diese müssten „sowohl im kommunalpolitischen Alltag als auch im Internet stärker geahndet werden.“ Der Passus ist deshalb interessant, weil er sich offensichtlich auf den umstrittenen Paragraphen 188 des Strafgesetzbuches (vulgo „Politikerbeleidigung“) bezieht. Dieser war 2021 noch unter der großen Koalition reformiert worden, um insbesondere Kommunalpolitiker in der zunehmend als rauer wahrgenommenen politischen Auseinandersetzung vor Angriffen („Beleidigung“) zu schützen. In der Folge hatten jedoch auch zahlreiche Spitzenpolitiker den Paragraphen genutzt, um auf teils harmlose Kritik im Internet mit hundertfachen Strafanzeigen zu reagieren. Berühmt geworden war etwa der Fall, in dem Robert Habeck der Anzeige gegen einen „X“-Nutzer zugestimmt hatte, der ein Meme repostet hatte, in dem der Vizekanzler als „Schwachkopf“ bezeichnet wurde – was für den Mann immerhin eine Hausdurchsuchung zur Folge hatte.
Das eher komplizierte Verhältnis der Grünen zur Meinungsfreiheit zeigt sich auch in der Ankündigung, die „algorithmische Verstärkung von Hass und Hetze“ ins Visier zu nehmen und ein „digitales Gewaltschutzgesetz“ einzuführen. Ihre Grenzen finde die Meinungsfreiheit, wenn „Straftatbestände wie Beleidigung oder Volksverhetzung“ erfüllt seien, schreiben die Grünen, fügen aber hinzu: „Solche Hassrede muss konsequent gelöscht und Accounts, die Hetze verbreiten, schneller gesperrt werden“. All das ist insofern problematisch, als „Hass und Hetze“ eher unscharf definiert, und für sich genommen eben nicht strafbar sind. Die gerade aus diesem Blickwinkel häufig kritisierte Europäische Verordnung Digital Services Act (DSA) zur Regulierung großer Internetplattformen wollen die Grünen als wichtigen Grundstein für ein „demokratisches Netz“ konsequent umsetzen, und sich „wo nötig“ für „Verbesserungen“ einsetzen.
In Abtreibungsfragen schließlich bekennt sich die Ökopartei zu ihrer auch schon in der laufenden Legislatur vorgetragenen Haltung, diese müssten „grundsätzlich außerhalb des Strafrechts geregelt werden.“ Denn: „Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist ein Grundrecht, das für alle gelten muss. Dazu gehört das Recht auf Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen.“ Diese sollen die Krankenkassenkosten durchgeführt werden, auch müsse es „genügend Einrichtungen geben, die den Eingriff mit der gewünschten Methode vornehmen“; die „telemedizinische Betreuung“ müsse ausgebaut werden. Die Rechte bereits geborener Kinder wollen die Grünen dagegen wiederum „stärken“: „Parteiübergreifend wollen wir darauf hinarbeiten, die Kinderrechte endlich ins Grundgesetz zu schreiben und das Wahlalter auch auf Bundesebene auf 16 Jahre zu senken.“
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