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Paukenschlag aus Washington

Dass künftig wohl jeder US-Bundesstaat selbst über seine Abtreibungsgesetze entscheiden kann, ist gut. Grund zur Sorge gibt die Art und Weise, wie das bekannt wurde.
"Marsch für das Leben" in Washington
Foto: John Lamparski via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Sowohl bei Demokraten wie bei Republikanern dürfte eine Kehrtwende in der Abtreibungsfrage immenses Potenzial zur Wählermobilisierung freisetzen. Im Bild: "Marsch für das Leben" in Washington.

Es ist ein wahrer Paukenschlag, der da am Montagabend aus Washington zu vernehmen war und in den frühen Morgenstunden seine Schallwellen auch bis nach Europa donnern ließ: Ein durchgestochenes Dokument läutet einige Wochen früher als erwartet die Kehrtwende in der amerikanischen Abtreibungsfrage ein.

Mit dem fast 50 Jahre alten, umstrittenen Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“, das straffreie Abtreibungen vor der Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibs ermöglicht, sei eine „falsche Entscheidung“ getroffen worden, heißt es in der ausführlichen Urteilsschrift des Obersten US-Gerichtshofs, die das Nachrichtenportal „politico.com“ nun vorab veröffentlichte. Offiziell sollte der Richterspruch frühestens im Juni bekanntgegeben werden.

Das Urteil ist verfassungsrechtlich geboten

Einige Vorbehalte bleiben zunächst: Noch existiert kein unwiderlegbarer Nachweis für die Authentizität des Dokuments, geschweige denn eine Bestätigung von offizieller Seite. Selbst wenn alle Zweifel ausgeräumt wären, das Schreiben datiert auf den 10. Februar, ist also fast drei Monate alt – viele Formulierungen, ja sogar Argumentationen, können sich seitdem schon wieder geändert haben. Oder sie ändern sich noch bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Urteilsverkündung.

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Dann wiederum ist die inhaltliche Linie des Urteils durchaus plausibel und stellt keine Überraschung dar. Zahlreiche Beobachter gehen schon länger davon aus, dass der „Supreme Court“ die bislang geltende Rechtslage kippen wird. Zudem sprechen stilistische Analysen stark dafür, dass das Dokument echt ist. Daher dürfen Lebensschützer durchaus verhalten jubeln: Das Urteil des Obersten Gerichtshof wird sehr wahrscheinlich so ausfallen, wie es das nun geleakte Papier skizziert. In Zukunft wird wohl jeder Bundesstaat auf legislativem Weg selbst entscheiden können, ob, wie lange und unter welchen Voraussetzungen Abtreibungen erlaubt sind.

Und das wäre gut. Dass Entscheidungen in der Abtreibungsfrage nicht mehr der Justiz sondern wieder den Parlamenten obliegen, ist der einzig denkbare Weg, mit dem politisch so hart umkämpften Thema umzugehen. Die amerikanische Verfassung und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit lassen kein anderes Verfahren zu. Der Oberste Richter Samuel Alito, der als Autor der veröffentlichten Mehrheitsmeinung genannt wird, bringt es in dem Text exakt auf den Punkt, wenn er schreibt: „Über die Zulässigkeit von Abtreibungen und die für sie geltenden Grenzen muss so entschieden werden, wie es in den meisten wichtigen Fragen unserer Demokratie geschieht: indem die Bürger versuchen, einander zu überzeugen und dann darüber abstimmen.“ 

Das politisch aufgeladene Klima wird weiter befeuert

Die Sache hat aber noch eine weitere Dimension, und die ist rein politisch. Dass das Urteil durchgestochen wurde stellt ein noch nie dagewesenes Vorkommnis in der Geschichte der US-Gerichte dar – und heizt das politisch äußerst aufgeladene Klima zwischen Abtreibungsgegnern und -befürwortern weiter an. Noch spät in der Nacht, wenige Stunden nach dem Leak, kam es vor dem Obersten Gerichtshof in Washington bereits zu Zusammenstößen zwischen Kritikern und Unterstützern des mutmaßlichen Urteils.

Schon jetzt wird spekuliert, welche Partei von dem Leak am ehesten profitieren kann. Im November stehen die Zwischenwahlen an, in einem Jahr beginnen die ersten Vorausscheidungen im Präsidentschaftswahlkampf. Sowohl bei Demokraten wie bei Republikanern dürfte eine Kehrtwende in der Abtreibungsfrage immenses Potenzial zur Wählermobilisierung freisetzen. Es gibt kein vom Obersten Gericht oktroyiertes Urteil mehr, jetzt haben die Wähler es in der Hand, mit ihrer Stimme an den Wahlurnen. Damit können beide Seiten exzellent Wahlkampf machen – Ausgang ungewiss. Sicher ist nur, dass nun mit noch härteren Bandagen gekämpft wird.

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