Der frühere Premierminister und Oppositionsführer Kenias, Raila Odinga, ist am Mittwochmorgen im Alter von 80 Jahren in einer ayurvedischen Augenklinik im südindischen Bundesstaat Kerala verstorben. Er erlitt während eines morgendlichen Spaziergangs auf dem Klinikgelände einen Herzstillstand, wie die Klinik in einer Stellungnahme bekannt gab. Zuvor hatten wochenlange Spekulationen über seinen Gesundheitszustand die Runde gemacht, die von seiner Familie und seiner Partei, dem „Orange Democratic Movement“ (ODM), aber zurückgewiesen wurden.
Odinga, von vielen Kenianern wertschätzend „Baba“ (Vater der Nation) genannt, galt als einer der bedeutendsten Verfechter von Demokratie und politischer Reform in Kenia. Er spielte eine Schlüsselrolle bei der Einführung des Mehrparteiensystems 1991 sowie bei der Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahr 2010. Er trat fünfmal erfolglos als Präsidentschaftskandidat an und zweifelte jedes Mal die Wahlergebnisse an.
Ohne Prozess für sechs Jahre inhaftiert
1982 wurde Odinga ohne Prozess für sechs Jahre inhaftiert, nachdem man ihm eine Beteiligung an einem Putschversuch gegen Präsident Daniel arap Moi vorgeworfen hatte. Auch nach seiner Freilassung wurde er mehrfach wegen seines Einsatzes gegen das Einparteiensystem verhaftet, bevor er 1991 ins Exil nach Norwegen ging.
1997 trat er erstmals als Präsidentschaftskandidat für die „National Development Party“ an – jedoch ohne Erfolg. Odinga und die NDP unterstützten folglich Moi und die „Kenya African National Union“ (KANU), die seit Kenias Unabhängigkeit ununterbrochen an der Macht war. Moi ernannte Odinga in seinem Kabinett zum Energieminister. Odingas Hoffnung, Moi als KANU-Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2002 zu beerben, wurde aber zunichte gemacht, als Moi stattdessen Uhuru Kenyatta, den Sohn des ersten Präsidenten Kenias, Jomo Kenyatta, unterstützte. Mehrere KANU-Mitglieder, einschließlich Odinga, verließen daraufhin die Regierungspartei und gründeten die „Liberal Democratic Party“ (LDP), die sich mit anderen Parteien unter der Führung des ehemaligen Vizepräsidenten Mwai Kibaki zur „National Rainbow Coalition“ (NARC) zusammenschloss. Die NARC gewann die Wahl und löste KANU nach Jahrzehnten an der Macht ab.
Zwischen Odinga und Kibaki kam es jedoch bald zum Bruch über nicht eingehaltene Abkommen zur Verteilung von Ministerposten. Odinga gründete daraufhin die ODM, die bei der Parlamentswahl 2007 eine überwältigende Mehrheit gewann. Die Präsidentschaftswahl endete hingegen umstritten: Trotz zunächst deutlicher Führung Odingas wurde Kibaki zum Sieger erklärt, was zu landesweiten Protesten und ethnischer Gewalt führte, durch die über 1.000 Menschen starben und mehr als 600.000 vertrieben wurden.
Späte Versöhnung mit Kenyatta
Ein durch internationale Vermittlung zustande gekommenes Abkommen zwischen Kibaki und Odinga führte zur Bildung einer Regierungskoalition, in der Odinga zwischen 2008 und 2013 als Premierminister amtierte. Auch die Wahlen 2013 und 2017 verlor Odinga gegen Kenyatta. Das Wahlergebnis 2017 wurde jedoch vom Obersten Gericht wegen Unregelmäßigkeiten annulliert – ein historischer Präzedenzfall für Afrika. Odinga boykottierte dennoch die Wiederholung der Wahl mit der Begründung, dass die Voraussetzungen für einen fairen Wahlkampf nicht gegeben seien. Der ODM-Kandidat erklärte sich später in einer inoffiziellen Zeremonie selbst zum „Präsidenten des Volkes“, unterstützt von Tausenden Anhängern.
Trotz politischer Rivalität kam es später zur Versöhnung mit Kenyatta, der Odinga bei der Wahl 2022 unterstützte. Diese gewann jedoch William Ruto, der heute amtierende Präsident. Odinga erkannte das Ergebnis zwar nicht an, unterzeichnete aber später ein Kooperationsabkommen mit Ruto zu Fragen wie nationaler Einheit, Reformen und Jugendbeschäftigung. Dies brachte ihm Kritik ein: Viele warfen ihm vor, sich von der Regierung vereinnahmen zu lassen und die Prinzipien seiner bisherigen politischen Karriere verraten zu haben.
Mit Odingas Tod verliert Kenia eine prägende Figur des unabhängigen Kenia – und die Opposition ihren bedeutendsten Wortführer. In einer Phase wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung hinterlässt sein Tod ein Vakuum. Im Juli protestierten Tausende, vor allem junge Menschen, gegen die Regierung. Sie prangerten Korruption, Polizeigewalt und Perspektivlosigkeit an. Viele wünschen sich vorgezogene Neuwahlen – die Frage ist: Wer wird die neue Hoffnungsfigur der Opposition?
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