Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Kommentar um "5 vor 12"

Israel setzt auf die Stärke der Demokratie

Das Höchstgericht kippt den Kern von Netanjahus Justizreform, weil es an die Überlegenheit der Gewaltenteilung glaubt.
Premierminister Netanjahu und Justizminister Levin sind entsetzt über das Urteil des Obersten Gerichtshofe
Foto: IMAGO/Chen Junqing (www.imago-images.de) | Premierminister Benjamin Netanjahu und Justizminister Yariv Levin sind entsetzt über das Urteil des Obersten Gerichtshofes, das den Kern der geplanten Justizreform gestoppt hat.

Nicht nur in diktatorischen oder autoritären Staaten dominiert die These, Demokratien seien im Ernst- und Kriegsfall schwächer und fragiler, weil zerstrittener. Auch in den westlichen Demokratien gelten mühsame Konsens- und Kompromisssuche, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit mitunter als Schwäche. Selbst das antike Rom kannte für den Ernstfall eine Diktatur auf Zeit.

Lesen Sie auch:

Und so hatte wohl auch Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu gedacht, gerade in Kriegszeiten werde Israels Höchstgericht seine eigene Entmachtung widerstandslos hinnehmen. Genau darauf nämlich zielte der Kern der sogenannten Justizreform, präziser das „Gesetz zur Einschränkung der Angemessenheitsprüfung durch den Obersten Gerichtshof“. Dieses Gesetz hatte die Regierung trotz wochenlanger Proteste im Juli in der Knesset, dem Parlament Israels, mit 64 von 120 Abgeordnetenstimmen durchsetzt.

Reform spaltet

Die Reform spaltete die ohnehin plurale israelische Gesellschaft: Kritiker sahen darin eine Abkehr von der bisherigen Gewaltenteilung, weil dem Höchstgericht die Möglichkeit genommen werden sollte, verabschiedete Gesetze und wichtige Personalia auf ihre Angemessenheit zu prüfen. Die israelische Form der „Balance of Power“ wäre ins Wanken geraten; die Regierung wäre im Spiel der staatlichen Gewalten übermächtig geworden. Doch genau diesen Teil der Justizreform stoppte das Oberste Gericht jetzt mit knapper Mehrheit: Acht der 15 Richter erklärten die Aufhebung der Angemessenheitsklausel für ungültig.

Typische Propaganda

Wenn Justizminister Yariv Levin nun schäumt, den Richtern mangle es angesichts des Krieges am „nötigen Geist des Zusammenhalts“, dann ist das die typische Propaganda jener Kräfte, die die Gewaltenteilung für einen Luxusartikel in ruhigen, friedlichen Wohlstandszeiten halten. Israel muss gerade angesichts der gegenwärtigen militärischen, politischen und strategischen Herausforderung beweisen, dass seine Gründungsidee stimmt – dass also eine vielfältige Gesellschaft mit funktionierender Gewaltenteilung und echter Rechtsstaatlichkeit stark und überlebensfähig sein kann. Israel ist nicht stark, obwohl es eine Demokratie ist, sondern weil es eine Demokratie ist. Davon scheint eine Mehrheit der Richter überzeugt zu sein – im Gegensatz zu Regierungschef Netanjahu.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Stephan Baier Benjamin Netanjahu Demokratie Justizreformen Knesset

Weitere Artikel

Ministerpräsident Netanjahu kündigte an, die umstrittene Justizreform pausieren zu wollen. Doch die Gefahr für Israels Rechtsstaat ist noch nicht gebannt.
07.04.2023, 17 Uhr
Philipp Bremer
Zurückhaltung oder Eskalation? Vieles spricht dafür, dass Israel nicht schweigen wird, aber an einer Eskalation ist die Mehrheit nicht interessiert.
16.04.2024, 15 Uhr
Godel Rosenberg

Kirche

Yannick Schmitz, Referent beim Berliner Vorortspräsidium des Cartellverbandes, sieht gute Gründe dafür, dass der Verband künftig wahrnehmbarer auftritt.
27.04.2024, 13 Uhr
Regina Einig
Das römische Dokument „Dignitas infinita" lädt ein, aus der Fülle der Identität als Erben Christi zu leben, statt eigene Identitäten zu konstruieren. 
26.04.2024, 17 Uhr
Dorothea Schmidt
Die deutschen Bischöfe werden beim Synodalen Ausschuss wohl keine kirchenrechtskonforme Lösung finden. Das Mehrheitsprinzip eröffnet einen rechtsfreien Raum.
25.04.2024, 11 Uhr
Regina Einig