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Im Fadenkreuz der Russen

So schauen die baltischen Staaten auf den russischen Angriff auf die Ukraine.
Turku und Tallinn werden Europas Kulturhauptstadt 2011
Foto: Peer Grimm (dpa) | ARCHIV - Blick auf die Altstadt der estnischen Hauptstadt Tallinn (Archivfoto vom 11.07.2007). Turku und die 200 Kilometer entfernte estnische Hauptstadt Tallinn werden am 1. Januar 2011 Europas Kulturhauptstädte 2011.

Wenn deutsche Touristen oder Geschäftsleute in die drei baltischen Länder reisten, bekamen sie immer wieder warnende Worte vor dem großen, schrecklichen Nachbarn zu hören. Diese Töne erklangen auch lange nach dem EU- und NATO-Beitritt von Lettland, Litauen und Estland im Jahr 2004. Die jahrzehntelang sowjetisch besetzten Länder beschworen stets die Gefahr einer drohenden russischen Invasion. Sie sahen die Möglichkeit als real, ein potenzielles Ziel Russlands zu sein. 

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Einmarsch erwartet

Die Besetzung der Krim im Jahr 2014 sowie die kriegsähnliche Situation in der Ostukraine, die im selben Jahr begann, haben diesen Befürchtungen neue Nahrung gegeben. Der frühere estnische Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves hat Russland nie besucht. Nun sagte der prominente Politiker mit Blick auf die aktuelle Entwicklung, man wisse nicht, wo die Panzer anhalten. Schon vor acht Jahren war die Angst mit Händen zu greifen. Estland, Lettland und Litauen sind überzeugt, dass Russland die europäische Ordnung verändern will. Wenn sie nun Sanktionen fordern, geht es den baltischen Staaten um die eigene Sicherheit. In allen drei Ländern leben große russische oder russischsprachige Gemeinschaften.

In Narva, der drittgrößten Stadt Estlands direkt an der Grenze zu Russland, haben nur 48 Prozent der Einwohner auch die estnische Staatsbürgerschaft, 36 Prozent sind Russen und 13,6 Prozent haben gar keine Staatsangehörigkeit. Letztere Gruppe kann problemlos nach Russland, aber auch in andere EU-Länder reisen. In dieser Sicherheitslage verstört es die estnische Öffentlichkeit mehr, dass Deutschland, wenn es um die Sicherheit der baltischen Staaten geht, nicht einmal ein paar tausend Helme liefert. In Estland bereiten sich manche Zivilisten schon auf einen russischen Einmarsch vor. 

Strategische Bedeutung

Es geht aber um weit mehr als militärische Muskelspiele. Schon 2007 war Estland im Fadenkreuz, durch einen Cyberangriff. Kurz zuvor war eine sowjetische Bronzestatue, die als Monument für die Leiden des Zweiten Weltkriegs an den 9. Mai 1945 erinnerte, aus dem Stadtzentrum entfernt worden. Auch Trollangriffe aus Moskau sind immer öfter zu verzeichnen. In Estland auch deswegen immer stärker bedroht, weil russische Medien direkt und ungefiltert von der starken russischen Minderheit konsumiert werden und so Einfluss auf das öffentliche Meinungsklima nehmen. Der Westen steht nun vor einer dreifachen Aufgabe: die Bewahrung der europäischen Friedensordnung, einem Exit aus der Energieabhängigkeit von Russland sowie der Entwicklung einer Resilienzstrategie gegenüber den Cyberattacken, die sicher noch zunehmen werden.

Hier spielt die strategische Bedeutung der baltischen Staaten eine wichtige Rolle, in Tallinn steht das NATO-Zentrum für Cybersecurity. Seit Jahren werden dort Cyberkriege simuliert. Cybersecurity kann in Estland bereits sogar an vielen Schulen als Wahlfach belegt werden, einige sind darauf spezialisiert. Will die NATO als effektives Bündnis glaubwürdig sein und Bestand haben, muss sie in Zentral- und Osteuropa qualitativ und quantitativ ihre Abschreckungspräsenz gegenüber Russland sichtbar stärken,. Die estnischen Unabhängigkeitsfeiern am vergangenen Donnerstag standen denn auch ganz im Zeichen der Sorge vor einer russischen Invasion. Zeitgleich zu den öffentlichen Feierlichkeiten, als am Morgen die sogenannten die estnischen Flaggen der Freiheit gehisst wurden, überfiel Russland die Ukraine. Staatspräsident Alar Karis schrieb bei Twitter, das Böse sei nun real geworden. In seiner Ansprache hob das estnische Staatsoberhaupt, dass die Sicherheit der Region fundamental gefährdet sei.

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Auch Sympathien für Putin

Freilich gibt es auch Misstöne im Land: Varro Vooglaid, stramm konservativ, katholisch und profilierter Abtreibungsgegner, der mit dem Theologen Markus Järvi das Medienportal „Objektiiv“ betreibt, sprach vor wenigen Tagen davon, dass ein russischer Einmarsch Sinn machen würde – nur wenige Tage vor dem Unabhängigkeitstag. Die Fahne, die symbolisch auf dem Herrmansturm auf dem Domberg gehisst wird, könne auch russisch statt estnisch sein. Vooglaid ist ein radikaler Impfgegner und so auch vehementer Kritiker der Regierungspolitik. 

Spätestens seit der Flüchtlingskrise sucht der 41-Jährige den Schulterschluss mit der rechtsradikalen EKRE-Partei und demonstriert seit Wochen gegen die Regierung, mit Blick auf Corona und die stark angestiegenen Energiepreise. EKRE ist momentan nach den Umfragen die stärkste Kraft. Vooglaid, der mit den EKRE-Protagonisten eine zarte Bande pflegt, erhielt durch eine Demonstrationspolitik viel Zulauf, auch mit seinem Portal, wo auch estnischen Mitgliedern der Waffen-SS gehuldigt wurde.

Vooglaid, der zu den bekanntesten und umstrittensten Personen des Landes gehört, ist mit seinen Positionen aber in Estland nicht mehrheitsfähig. Erst kürzlich wurde er von der größten Tageszeitung des Landes „Postimees“ von der Liste ihrer Kommentatoren gestrichen, auch weil er einen Journalisten verbal anging, der ihm bei einer Demonstration kritische Fragen stellen wollte. Ansonsten hat die Kirche in Estland, abgesehen von Urmas Viilma, Erzbischof der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, eher wenig Gewicht.


Der Politikwissenschaftler Florian Hartleb lebt seit 2014 in der estnischen Hauptstadt Tallinn.

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