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Gesucht sind Brückenbauer, nicht Sprengmeister

Fundamentalisten in Brüssel setzen auf Eskalation gegenüber Polen und Ungarn, doch Europa braucht Einfühlungsvermögen und Kompromissbereitschaft.
Streit zwischen Polen und der EU
Foto: John Thys (Pool AFP/AP) | Mateusz Morawiecki, Ministerpräsident von Polen, spricht mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor einem Treffen im Rahmen eines EU-Gipfels.

Im Konflikt mit Polen wächst gefühlt stündlich die Zahl derer, die ganz genau zu wissen meinen, wie sich EU-Recht zu nationalem Verfassungsrecht verhält, wie schwer die Urteile des Europäischen Gerichtshofs wiegen und wie Zahlungsbefehle zu vollstrecken sind. Gewiss, das vereinte Europa ist eine Rechtsgemeinschaft und alle müssen sich an die Hausordnung halten. Und doch ist Europa seit jeher ein politisches Projekt, das sich bis hierher in hunderten Krisen flexibel und kompromissfähig gezeigt hat.

EU lebt von Ausgleich der Interessen

„Schwierige“ Mitgliedstaaten gab es immer, nicht erst seit der EU-Osterweiterung von 2004. Großbritannien war in der Beziehungskiste mit Europa immer schwierig, und doch war jeder Kompromiss, der mühevoll gesucht und unter Schmerzen gefunden wurde, sinnvoller und besser als der unselige, folgenschwere Brexit. Fundamentalisten mögen das beklagen, aber Deutschland und Frankreich wurden nicht finanziell abgestraft, als sie erstmals gegen die Maastrichter Euro-Kriterien verstießen, Griechenland wurde nicht aus der Euro-Zone geworfen und der Verarmung überantwortet, Großbritannien wurde unter Thatcher trotz aller damaligen Erpressungen nicht unter das Joch gezwungen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

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Die EU ist kein Zentralstaat und soll – laut seiner eigenen Verfassung, dem Vertrag von Lissabon – auch keiner werden. Sie hat bundesstaatliche und staatenbündische Elemente, lebt also von einem vitalen Gleichgewicht, vom Ausgleich der Interessen und Sichtweisen, von der immerwährenden Suche nach Konsens und der Bereitschaft zum Kompromiss. Jetzt sind Brückenbauer gesucht, nicht Sprengmeister. Wie immer man die Kanzlerschaft von Angela Merkel bewerten mag: In der EU war sie stets auf der Suche nach Ausgleich und Kompromiss. Dazu gehört eine Demut, die Ursula von der Leyen in ihren langen Jahren an der Seite Merkels leider nicht gelernt hat.

Druck erzeugt Gegendruck: Während EU-Fundamentalisten in dieser Woche danach riefen, den Druck auf Polen zu erhöhen, empfing in Budapest Viktor Orbán die französische Nationalistin Marine Le Pen mit viel Pathos und allen Ehren. Wenn man in Brüssel meint, ohne vermittelnde Kompromisse und wechselseitiges Entgegenkommen Warschau oder Budapest unter die Knute zwingen zu können, werden die Zentrifugalkräfte zur Zerreißprobe anwachsen. Ein Zerbersten der Europäischen Union ist dann nicht mehr auszuschließen. Das jedoch wäre eine Tragödie von historischer Tragweite.

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Themen & Autoren
Stephan Baier Europäische Union

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