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Erdoğan setzt auf Hysterisierung

Der türkische Volkstribun hetzt gegen Israel und führt selbst einen ideologischen Krieg im Norden Syriens und des Irak.
Sorgt sich nicht um zerbrochenes Porzellan, solange er die Stimmung anheizen kann: Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Foto: Marton Monus (dpa) | Sorgt sich nicht um zerbrochenes Porzellan, solange er die Stimmung anheizen kann: Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Ein Volkstribun mit der Neigung zu verbalem Radikalismus war Recep Tayyip Erdoğan schon immer. Dass ihn zerbrochenes Porzellan – innenpolitisch wie in den internationalen Beziehungen – einfach nicht interessiert, wenn er sein Publikum anheizen kann und den Jubel der Straße spürt, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass der Underdog aus Istanbul sich seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Spitze der Türkei halten kann.

Angesichts der Emotionen, die der Gaza-Krieg in der islamischen Welt entfacht hat, greift Erdoğan in die unterste Schublade: Israels Politik mit den Nazis zu vergleichen und den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu mit Adolf Hitler, das ist die nicht mehr überbietbare Beleidigung und die ultimative Geschmacklosigkeit. Mag sein, dass die Massen, die dem türkischen Volkstribun zujubeln, emotionalisiert sind; er selbst handelt aus nüchternem Kalkül: Wie schon im „Arabischen Frühling“ 2011 strebt Erdoğan nach einer Führungsrolle in der islamischen oder zumindest in der sunnitischen Welt. Während die Regierenden in Amman und Kairo um Deeskalation bemüht sind, setzt der türkische Präsident gezielt auf Hysterisierung.

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Ankara führt Krieg im Norden Syriens

Im Windschatten des Gaza-Kriegs jedoch führt Erdoğan seinen eigenen Krieg: Immer wieder – auch in diesen Tagen – lässt Ankara die Autonomiegebiete im Norden Syriens bombardieren. Mehr als 70 Ziele hat die türkische Luftwaffe in den vergangenen Tagen in Nordsyrien angegriffen und dabei 59 kurdische „Terroristen neutralisiert“, wie es aus Ankara heißt. Der Kampf gegen die kurdische PKK und ihre Spielräume rechtfertigt aus türkischer Sicht jede Grenzverletzung und jede Menschenrechtsverletzung. 

Diesbezüglich ist Erdoğan mehr der Erbe Atatürks als der Osmanen: Anders als der osmanische Vielvölkerstaat beruht die Türkische Republik auf der Illusion nationaler (also türkischer) Homogenität. Die schiere Existenz des in mindestens vier Staaten des Orients wachsenden kurdischen Volkes stört diese Ideologie. Als Führer der Türken sieht sich Erdoğan berechtigt oder sogar verpflichtet, jede kurdische Eigenstaatlichkeit grenzüberschreitend niederzuringen: auch im Norden Syriens und des Irak. Eigentlich erstaunlich, dass Netanjahu Erdoğans Hitler-Vergleich noch nicht zurückgespielt hat.

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Stephan Baier Adolf Hitler Benjamin Netanjahu Nationalsozialisten Recep Tayyip Erdoğan

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