Das immerhin hat Bundestagspräsidentin Julia Klöckner geschafft: Die Kirche ist plötzlich ein Thema in der Hauptstadt. Der Zeitpunkt war auch gut gewählt. Passend zu Ostern erschien die Kritik an einer zur politisierten Kirche, die drohe zur bloßen NGO zu werden, die eigentlichen seelsorgerlichen Bedürfnisse der Gläubigen aber zu vernachlässigen. Dass das Interview in der „Bild am Sonntag“ dann auch mit dem Tod von Papst Franziskus zusammenfiel, konnte Klöckner natürlich nicht planen, gab aber der Diskussion noch zusätzlichen Auftrieb.
Und wie das bei solchen Debatten immer ist, es kann der Urheberin nichts Besseres passieren, als dass sich viele aufregen. Die massive Empörung, die in kirchlichen Verbänden oder auch im linken Spektrum generell aufbrandete, unterstrich nur: Sie schreien deswegen auf, weil es nun einmal wehtut, wenn jemand die Finger in die Wunde legt. Viel zu offensichtlich ist schließlich auch die starke Sympathie des Funktionärsapparats vieler kirchlichen Institutionen, von den Verbänden über Hilfswerke bis hin zu den Bistümern, zu einer tendenziell grünen Programmatik. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, ist keine investigative Recherche notwendig, es genügt der Besuch bei einem durchschnittlichen Katholikentag.
Diese Aufregung sorgte auch dafür, dass die Aussagen Klöckners letztlich in radikalerer Form kolportiert wurden, als sie tatsächlich gefallen sind. Tatsächlich wies die Parlamentspräsidentin nicht jede politische Wirksamkeit der Kirche zurück. Wie sollte das auch funktionieren? Schließlich hat die christliche Grundbotschaft, wenn sie denn wirksam sein soll, wohl immer notwendigerweise eine Ausstrahlung in die Gemeinschaft hinein. Also in das, was die Griechen „polis“ genannt haben und wovon sich auch unser Verständnis von „politisch“ ableitet. Klöckner warnte aber zurecht vor einer einseitig politisierten Kirche, die zu sekundären Fragen der Politik – sie nannte als Beispiel das Tempolimit – Stellung bezieht und sich so als Parteigängerin von einem bestimmten Lager instrumentalisieren lässt.
Christdemokratischer Phantomschmerz
Irgendwie klang dabei aber auch ein Phantomschmerz bei den Christdemokraten mit, den sie erst so richtig spüren, seit von kirchlicher Seite die Migrationspolitik ihres Kanzlerkandidaten während des Wahlkampfes kritisiert wurde. Manche haben wohl erst da gemerkt, dass die Rolle, die die Union einmal für das katholische Milieu gespielt hat, nun von den Grünen übernommen worden ist. Seit dem 19. Jahrhundert und auch in der frühen Bundesrepublik wurde das politische Leben durch sogenannte sozial-moralische Milieus bestimmt. Das katholische Milieu war auch so eines, und sein politischer Aktionsausschuss war bis in die 90er hinein nahezu selbstverständlich die Union. Natürlich unterstreicht diese sehr späte Erkenntnis, dass das heute nicht mehr so ist, einmal mehr die intellektuelle Schlafmützigkeit der C-Parteien: Seit 20 Jahren mindestens schon klingelt der Wecker, doch erst jetzt zieht man die Pfropfen aus den Ohren, weil das Alarmsignal einfach nicht mehr zu überhören ist. Nur der Zeitpunkt, an dem sich noch irgendetwas hätte ändern können, ist längst verschlafen.

Diejenigen in der Union, die jetzt Klöckner bejubeln, sollten verstehen, dass der kurze Triumph über einen Mini-Kampagnen-Coup langfristig nichts ändern wird. Da wäre schon etwas mehr intellektuelle Anstrengung nötig. Dazu gehört auch die Einsicht, dass eine politisierte Kirche nicht nur ein Problem des linken Spektrums ist. Kürzlich veröffentlichte die Schweizer „Weltwoche“ ein ausführliches Interview mit Kardinal Ludwig Müller. In dem über einstündigen Video sind auch mehr oder weniger kundige ausführliche Auslassungen des ehemaligen Chefs der Glaubenskongregation über einen vermeintlich anti-christlichen Charakter der EU und ihrer Institutionen zu hören. Ob man diese Thesen nun teilen mag oder nicht, die Frage stellt sich auf jeden Fall: Ist das keine Politisierung? Geht es hier nicht auch um Parteinahme eines äußerst prominenten Klerikers?
Und schließlich muss hier noch ein anderes Phänomen in den Blick genommen werden: Es gibt nicht nur die politisierte Religion, sondern auch Versuche, die Politik mit religiösen Sinngehalten zu versehen. Ideologische Bewegungen werden dann zu Ersatzreligionen. Personen wie Donald Trump oder auch Wladimir Putin mutieren für ihre Anhänger zu Sehnsuchtsfiguren, die Erlösung verheißen. In Deutschland konnte man solche Tendenzen, freilich auf niedrigerem Niveau, an der Stilisierung von Robert Habeck zu einem politischen Heiligen beobachten. Aber auch bei Anhängern der AfD, vor allem in den Sozialen Medien, zeigt sich eine Art messianische Erlösungshoffnung, die sie ihrer blauen Leib- und Magen-Partei entgegenbringen. In dieser Debatte steckt also noch viel Musik drin.
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