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Die Konfrontation hat Erdogan genutzt

Diplomatie muss leise sein, wenn sie etwas erreichen will. Etwa die Wiederzulassung der orthodoxen Hochschule auf Chalki.
Ökumenische Patriarch von Konstantinopel Bartholomaios I.
Foto: Sedat Suna (EPA) | Patriarch Bartholomaios versteht weitaus besser als die außenpolitischen Köpfe in Brüssel und Washington die Stimmungslage in der Türkei.

Als die Türkei am Montag haarscharf an einer schweren diplomatischen Krise mit dem Westen vorbeischrammte, saß der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios, gerade in Washington bei US-Präsident Joe Biden. Besser als alle westlichen Botschafter in Ankara kennt das im Istanbuler Stadtteil Fener (Phanar) residierende Ehrenoberhaupt der weltweiten Orthodoxie den türkischen Präsidenten, seine taktischen Winkelzüge, seine psychischen Untiefen.
Tiefer als die außenpolitischen Köpfe in Brüssel und Washington versteht Bartholomaios die türkischen Sensibilitäten und Ehrbegriffe, aber auch die Stimmungslage in der Türkei. Man kann nur hoffen, dass US-Präsident Biden und sein Außenminister Antony Blinken, den Bartholomaios in Washington ebenfalls aufsuchte, dem weisen Patriarchen aufmerksam zugehört haben.

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Öffentliche Apelle

Ankara ist schon lange nicht mehr bereit, aus Washington oder Brüssel Befehle entgegen zu nehmen. Im Gegenteil: Die Zeugnisse, die die EU dem Land am Bosporus Jahr um Jahr öffentlich ausstellt, spornen Ankara nicht mehr zu Reformen an, sondern fördern lediglich anti-europäische Ressentiments in der Türkei. Die öffentlichen Appelle, die zehn Botschafter (darunter der amerikanische) an die Türkei gerichtet haben, lösten Erdogans Wutanfall aus – und halfen ihm, mit einer diplomatischen Krise von der schweren wirtschaftlichen Krise seines Landes abzulenken.

In der Türkei hat die kurzzeitige diplomatische Konfrontation Erdogan genützt: Er konnte sich neuerlich als starker Mann präsentieren, der die Botschafter westlicher Staaten zum Einlenken zwingt und das Land vor ausländischer Einmischung schützt. Der Westen muss im Umgang mit der Türkei lernen, dass Diplomatie leise und höflich sein sollte, wenn sie etwas erreichen will.

Eine Hochschule

Das betrifft auch ein Kernanliegen des Ökumenischen Patriarchen, das Bartholomaios dem US-Präsidenten vorgetragen hat: Die Orthodoxie braucht die Hochschule und das Seminar von Chalki, die vor 50 Jahren vom türkischen Staat stillgelegt wurden. Langfristig ist die Chalki-Frage eine Überlebensfrage für die Orthodoxie in der Türkei – und damit für den Sitz des Nachfolgers des Apostels Andreas in Konstantinopel. Bartholomaios weiß das, Erdogan weiß es, und Joe Biden weiß es nun auch. Polternde Drohungen oder öffentliche Mahnungen werden in dieser Causa nichts bewegen, das sollte man in Washington aus der gestern beigelegten Krise gelernt haben.

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Stephan Baier Antony Blinken Joe Biden

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