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Der Blutzoll der Ukrainer

Die russische Überlegenheit an schweren Waffen kostet jeden Tag viele Menschenleben.
Sonnenschein bei bitterer Realität
Foto: Natacha Pisarenko (AP) | Sonnenschein bei bitterer Realität: In gut dreieinhalb Monaten des russischen Angriffskrieges sind nach Regierungsangaben etwa 10.000 ukrainische Soldaten getötet worden.

Nach dem Einmarsch russischer Truppen in Georgien im August 2008 hat mich ein Freund an einen alten, makabren Witz aus dem Kalten Krieg erinnert. Ein britischer, ein italienischer und ein russischer Oberst trinken zusammen in einer Bar. Der Brite sagt, im Urlaub setze er sich am liebsten in seinen Aston Martin und fahre quer durch Europa. Der Italiener prahlt, er absolviere seine Touren durch Europa mit dem Ferrari. Mit ungerührter Miene antwortet der Russe: „Für meine Reisen in Europa nehme ich gewöhnlich einen T-62.“

Bürger verdrehten die Wegweiser

Der Witz spiegelt ziemlich genau die düstere Stimmung in Osteuropa in den 1970er Jahren: Die Sowjetunion hatte ihre kommunistischen Verbündeten in den Ostblockstaaten fest im Griff. Die sowjetische Armee hat im Oktober 1956 den Volksaufstand in Ungarn und zwölf Jahre später, im August 1968, den Prager Frühling in der Tschechoslowakei ohne größere Probleme niedergeschlagen. Dem sowjetischen „Panzer-Tourismus“ hatten die kleinen osteuropäischen Staaten kaum etwas entgegenzusetzen.

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1968 versuchten Tschechen und Slowaken mit bloßen Händen die Panzer zu stoppen, als die von der Sowjetunion angeführten Truppen des Warschauer Pakts einrückten, um den Demokratisierungsversuch der Kommunisten unter Führung von Alexander Dubček mit militärischer Gewalt zu beenden. Die Bürger des kleinen Landes verdrehten oder übermalten Ortstafeln und Straßenschilder, um den Angreifern die Orientierung zu erschweren. Andere Wegweiser zeigten den Weg nach Moskau oder schickten die russischen Iwans nach Hause. Die tschechoslowakische Armee blieb in den Kasernen.

Annexion der Krim und Etablierung von Marionettenregimes 

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hielt man in Russland an der Praxis weiterhin fest, bei jeder Gelegenheit Panzer in die nunmehr unabhängigen benachbarten Länder zu schicken. Ob 1992 in Transnistrien, 2008 in Georgien oder 2014 auf der Krim und im Donbass – überall mischten die russischen Truppen mit. Alle diese Einsätze, die sowjetischen wie die russischen, folgten einem ähnlichen Muster. Überfallen wurde immer ein hilfloser und hoffnungslos unterlegener Gegner, der überhaupt keine Chance hatte, sich ernsthaft zu wehren. Überall waren die Kämpfe nach nur wenigen Tagen, bei relativ geringen Opferzahlen vorbei.

Die Annexion der Krim erfolgte ohne organisierten Widerstand. Nur im Donbass sind die anfänglichen „Proteste“ der russischen Proxies zu einem Krieg eskaliert, der nach seiner ersten heißen Phase in den Jahren 2014/15 und der Etablierung von Marionettenregimes in Donezk und Luhansk eher auf Sparflamme geführt wurde, aber bis 2022 rund 14 000 Menschenopfer forderte.

Mit westlicher Hilfe den Überfall vorbereitet

Auch die internationalen Reaktionen auf diese brutalen Invasionen wiesen verblüffende Parallelen auf. Bei allen eklatanten Verstößen gegen das Völkerrecht mussten die Sowjetunion und zuletzt Russland im Grunde genommen keine ernsthaften Konsequenzen befürchten. Diese Straffreiheit hat das Putin-Regime in den letzten Jahren zu einer immer aggressiveren Politik verleitet, die durch entfesselte Propaganda begleitet wurde.

Erdgas- und Erdölgeschäfte sorgten für einen permanenten und nie austrocknenden Fluss an Einnahmen, die massiv in die Kriegsmaschinerie investiert wurden. Selbst nach den eher halbherzigen Sanktionen wegen der Annexion der Krim und der russischen Invasion im Donbass konnte man nicht einmal verhindern, dass die russischen Rüstungsfabriken weiterhin westliche Komponenten kauften, ohne die moderne Raketen und Panzer nicht funktionieren. Mit dieser westlichen Hilfe konnte sich Russland auf seinen Überfall auf die Ukraine ungehindert vorbereiten.

Putins Pläne durchkreuzt

Es sollte wieder ein leichter Sieg werden. Doch die entschlossene Gegenwehr der Ukrainer hat Putins Pläne zur schnellen Eroberung des Landes durchkreuzt. Beim zivilen Widerstand hat man die alte Taktik der Tschechen und Slowaken verwendet. Auch die Ukrainer haben zu Beginn des russischen Überfalls Ortstafeln und Straßenschilder verdreht, abmontiert oder übermalt. Auch sie haben auf den Wegweisern die russischen Soldaten aufgefordert, nach Hause zu gehen, oder sie zum Teufel geschickt.

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Invasion in der Tschechoslowakei ging es dabei erneut um den Widerstand einer Gesellschaft, die in Freiheit leben wollte. Anders als vor vielen Jahren wurden diesmal diese Aktionen mancherorts zur wirksamen Hilfe für beherzt kämpfende ukrainische Truppen, weil sie nicht selten das Vordringen der russischen Truppen verlangsamen konnten.

Öffentliche Meinung geändert

Kurz nach dem Überfall sind die Gräueltaten der russischen Truppen, die zum Rückzug aus dem Norden und Nordosten der Ukraine gezwungen wurden, sichtbar geworden. Sie haben die Menschen und die Regierungen im Westen schockiert, die bereits von den wahllosen barbarischen Bombardierungen der ukrainischen Städte und zivilen Objekte wie Krankenhäuser und Schulen durch das russische Militär entsetzt waren.

Die öffentliche Meinung im Westen schien sich rapide zu ändern. Endlich war man in vielen Hauptstädten überzeugt, dass man nicht nur härtere Sanktionen gegen das Putin-Reich einführen, sondern auch viel mehr Waffen an die Ukraine liefern soll.

EU-Kandidatenstatus wäre von entscheidendem Wert

Nun scheint diese Einigkeit einige Risse bekommen zu haben. Die Europäische Union hat fast zwei Monate gebraucht, um das sechste Sanktionspaket zu verabschieden, und selbst da wurden wichtige Ausnahmen gemacht. Ob und wann der nächste Schritt kommt, ist im Moment ungewiss. Manche Länder haben sogar eine Pause gefordert. Auch bei dem EU-Kandidatenstatus für die Ukraine gibt es keine Klarheit. Offenbar gibt es auch hier Widerstände in einigen europäischen Hauptstädten. Dabei wäre dieser Schritt von einem entscheidenden symbolischen Wert.

Dabei wird in Kiew mit Recht darauf verwiesen, dass die Ukraine zwar noch viele Reformen durchsetzen muss, aber in vielen Bereichen doch einige Schritte weiter ist als viele Länder, die bereits EU-Beitrittskandidaten sind. Eine Verweigerung dieses Status' oder eine Art Zwischenlösung wäre nicht nur ein herber Rückschlag für die Ukrainer, die in überwältigender Mehrheit die Zukunft ihres Landes in der EU sehen. Sie wäre aus russischer Sicht ein klarer Beweis für eine fatale europäische Schwäche.

Russische Überlegenheit an schweren Waffenkostet viele Menschenleben

Am allerwichtigsten sind für die Ukraine heute schnelle Lieferungen von schweren Waffen. Es geht vor allem um Raketenwerfer und Artilleriesysteme, um die russischen Angriffe im Osten zu stoppen. Dort hat Russland im Moment einen überwältigen Vorteil an Technik, kann aber trotzdem nur langsam und mühsam kleine Gebietsgewinne erzielen. Aber die russische Überlegenheit an schweren Waffen kostet jeden Tag Hunderte von Menschenleben. Unter permanentem Artilleriebeschuss sterben Soldaten und Zivilisten.

Doch gerade hier scheint es, dass der Westen nicht alles macht, um der Ukraine so schnell wie möglich aufzurüsten. Als hätte man Angst vor einer möglichen Gegenoffensive der ukrainischen Armee und einem zu schnellen Zurückdrängen der russischen Truppen. Die jetzigen Lieferungen reichen aus, um hier eine eine kleine Gegenoffensive zu starten und mit zahlreichen Opfern mühsam die Positionen zu halten. Vielleicht wird dadurch auch die russische Armee zermürbt, aber die Ukrainer zahlen dafür einen enormen Blutzoll.

Doppelt so viele tote Soldaten wie im Krieg von 1979

Im Dezember 1979 marschierten die sowjetischen Truppen in Afghanistan ein. Wenige Monate zuvor hatten sich die afghanischen Kommunisten an die Macht geputscht. Die sowjetische Führung hoffte, innerhalb weniger Wochen die Herrschaft der neuen Regierung in Kabul zu sichern.

Tatsächlich markierte der in der UdSSR als „internationale Pflicht“ bezeichnete Einmarsch den Beginn eines neunjährigen Zermürbungskriegs, der zwischen einer und zwei Millionen Afghanen das Leben kostete und ein zerstörtes Land hinterließ. Die Anzahl der sowjetischen Opfer war zunächst ein Staatsgeheimnis, später wurde sie offiziell auf knapp 15 000 beziffert. Die unabhängigen Schätzungen gehen von einer mindestens doppelt so hohen Ziffer aus. In der Ukraine hat die russische Armee bereits mehr Soldaten verloren als in den neun Jahren des Afghanistan-Desasters.

Dieser Krieg leitet den Untergang Russlands ein

Am Ende konnte die Sowjetunion den langen, brutalen Afghanistan-Krieg nicht gewinnen. Er wurde zudem in der Heimat sehr schnell äußerst unpopulär. Das Fiasko im fernen Land beschleunigte den Zerfall des sowjetischen Imperiums, das nach dem Abzug der Truppen im Februar 1989 nicht einmal drei Jahre zu leben hatte. Der ukrainische Menschenrechtler und Anwalt Masi Nayyem, dessen älterer Bruder Mustafa an den Ursprüngen der Euromaidan-Proteste stand, ist überzeugt: Der Krieg in der Ukraine wird den Untergang Russlands genauso einleiten, wie einst der Krieg in Afghanistan den Untergang der Sowjetunion eingeleitet hat.

Seine Familie flüchtete aus ihrem Heimatland, als Masi noch ein Kind war. Für seine neue Heimat hat er seit dem russischen Überfall an der Front gekämpft. Neulich wurde Masi schwer am Kopf verwundet und hat ein Auge verloren. Vielleicht wäre das nicht passiert, wenn die Ukrainer genug Waffen hätten, um russische Truppen zurückzuschlagen.

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