Es ist ein außergewöhnliches Wahljahr in den USA: Der amtierende demokratische Präsident kündigt an, keine zweite Amtszeit anstreben zu wollen, auf einen Präsidentschaftsanwärter wird ein Attentat ausgeübt und ein unabhängiger Drittkandidat sorgt für eine unberechenbare Komponente im Zweikampf zwischen Republikanern und Demokraten um das Weiße Haus. Für den Parteitag der Demokraten in Chicago Ende des Monats werden massive Proteste von linken Demonstranten erwartet, die mit der Außenpolitik ihrer Partei nicht zufrieden sind. Die Rede ist vom Wahlkampf im Jahr 1968. Der Präsident heißt Lyndon B. Johnson, das Attentats-Opfer Robert F. Kennedy und der Drittkandidat George Wallace. Die Wut der Demonstranten richtet sich gegen Johnsons Vietnampolitik.
Auch wenn die Lage 1968 nicht wie eine Schablone über das Jahr 2024 gelegt werden kann: Die Parallelen sind dennoch zahlreich. Doch seitdem die Demokraten ihren Präsidentschaftskandidaten ausgetauscht haben und mit der amtierenden Vizepräsidentin Kamala Harris ins Rennen ziehen, gehört zumindest eine Reminiszenz an das Jahr 1968 der Geschichte an. Damals machten die Demokraten nach internen Streitigkeiten den wenig populären Hubert Humphrey zu ihrem Kandidaten. Er sollte später die Wahl gegen Richard Nixon verlieren. Harris dagegen kann auf die überwältigende Unterstützung ihrer Partei bauen. Die Nominierung hat sie bereits in der Tasche, der Parteitag, der am Montag beginnt, gilt als reine Formsache.
Harris führt in drei "Swing States"
Selten zeigten sich die Demokraten zuletzt derart euphorisiert, derart optimistisch. Nachdem man die Wahl mit Joe Biden an der Spitze schon verloren glaubte, herrscht nun ein breiter Konsens: Kamala Harris kann Donald Trump im November schlagen. Dass diese Einschätzung von mehr getragen wird als einem Gefühl des Aufbruchs und den klingenden Wahlkampfkassen, die sich innerhalb von drei Wochen mit Hunderten Millionen Dollar an Spendengeldern füllten, belegten zuletzt auch die Meinungsumfragen. Laut einer jüngst veröffentlichten Erhebung der „New York Times“ liegt Harris inzwischen in drei potenziell wahlentscheidenden „Swing States“ vor Donald Trump. In Michigan, Pennsylvania und Wisconsin führt die 59-Jährige mit jeweils vier Prozentpunkten. Zum Vergleich: Vor seinem Rückzug hatte Biden in all diesen Staaten gegenüber Trump in den Umfragen das Nachsehen.
Auch Harris‘ Entscheidung, den Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, zu ihrem Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten zu ernennen, scheint den Demokraten noch einmal deutlich Rückenwind verschafft zu haben. Dass sie sich für Walz entschied und nicht für den als moderater geltenden, von vielen favorisierten Gouverneur von Pennsylvania, Josh Shapiro, bewerteten die meisten Beobachter als mutig.
Doch der 60-Jährige erschloss sich zuletzt eine immer größere Fangemeinde – unter anderem durch sein saloppes, schlagfertiges Auftreten. Walz gilt als bodenständiger, kumpelhafter Typ, dem Harris offenbar zutraut, Trump zumindest rhetorisch mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Er soll zudem die ländliche Bevölkerung der Staaten im Mittleren Westen zurück ins Lager der Demokraten holen, ja generell den Anschluss zur weißen Arbeiterschicht wiederherstellen, den die Partei seit längerem verloren hat.
Walz gehört nicht zur linksliberalen Elite
Aufgewachsen in einem 400-Seelen-Nest in Minnesotas Nachbarstaat Nebraska, gehört Walz nicht zur als abgehoben geltenden linksliberalen Elite. Nach dem Schulabschluss trat er der Nationalgarde bei, diente dort insgesamt 24 Jahre. Er unterrichtete Geografie, coachte das Footballteam seiner High School und führte es 1999 zur Meisterschaft. Walz ist kein strikter Waffengegner, geht selbst jagen und konnte einst sogar auf die Unterstützung der „National Rifle Association“ zählen. Da er sich nach einem Schusswaffenattentat allerdings für striktere Waffengesetze aussprach, verlor er diese wieder.
2006 begann Walz‘ politische Karriere als Abgeordneter im Repräsentantenhaus. Dort war er für seine Bereitschaft zur überparteilichen Zusammenarbeit bekannt. Seit 2018 amtiert Walz, der zwei erwachsene Kinder hat, als Gouverneur von Minnesota. Als es seiner Partei 2022 sogar gelang, Mehrheiten in beiden Parlamentskammern des Staates zu erzielen, nutzte Walz jedoch die Gelegenheit, um eine extrem progressive Agenda durchzudrücken. So unterzeichnete er im vergangenen Jahr ein Gesetz, das den Bewohnern des Bundesstaates ein „Grundrecht“ auf Abtreibung, den Einsatz von Verhütungsmitteln sowie Fruchtbarkeitsbehandlungen gewährt.
Bereits während seiner ersten Kandidatur für das Repräsentantenhaus 2006 sprach er sich für die gleichgeschlechtliche Ehe aus – zu einem Zeitpunkt, als der nationale Trend noch lange nicht in diese Richtung zeigte. Zu behaupten, Walz verfolge durch die Bank eine familienfeindliche Agenda, würde jedoch zu kurz greifen. So ermöglichte er den Bürgern Minnesotas auch, bezahlte Elternzeit zu nehmen und kündigte jüngst erst an, für Paare mit Kindern steuerliche Erleichterungen einführen zu wollen.
Vor Irak-Einsatz in den Ruhestand? Republikaner attackieren Walz
Die Republikaner sind mit dem Wechsel von Biden zu Harris in die Defensive geraten. Und auch der Name Walz auf dem Wahlticket hat sie offenbar überrumpelt. Dafür schießen sie nun umso heftiger gegen Walz. So muss sich der Gouverneur, der gerne auf seine militärische Erfahrung hinweist, den Vorwurf gefallen lassen, er habe nie an einem Kriegseinsatz teilgenommen – anders als Trumps Vizekandidat J. D. Vance. Manche gehen sogar so weit, Walz zu unterstellen, er habe sein Ausscheiden aus der Nationalgarde und den Beginn seiner politischen Karriere bewusst so gelegt, dass ihm der Einsatz im Irakkrieg erspart blieb.
Die Demokraten bleiben somit weiterhin verwundbar – auch auf dem Feld der Außenpolitik. Kamala Harris mag sich in ihrem Auftreten gänzlich von Biden abheben. Viele Aspekte seiner Politik dürfte sie aber übernehmen. So werden die USA auch unter Harris grundsätzlich an der Seite Israels stehen, auch wenn die ehemalige Senatorin aus Kalifornien womöglich noch deutlicher das Leid der Palästinenser betonen und den Druck auf Israels Premier Netanjahu erhöhen wird. Den extrem linken Anhängern der Partei ist das nicht genug. Sie wollen ihre lang angekündigten Proteste gegen die Nahostpolitik der Demokraten im Rahmen des Parteitags in Chicago fortsetzen. Die Parteispitze kann nur hoffen, dass sie nicht in ähnlich gewaltsamen Ausschreitungen wie 1968 enden.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.