Beim ersten gemeinsamen Auftritt mit Kamala Harris zeigte Tim Walz sogleich seine Angriffslust: Die Zahl der Verbrechen sei während der Präsidentschaft Donald Trumps gestiegen, erklärte er am Dienstag vor 10.000 Anhängern der Demokraten bei einer Wahlkampfkundgebung in Philadelphia. „Und da sind seine eigenen Verbrechen noch nicht einmal mit eingerechnet.“
Nur wenige Stunden zuvor hatte Harris Walz, den derzeitigen Gouverneur des Bundesstaats Minnesota, als ihren „Running Mate“ ausgewählt, mit ihm als Vizekandidat wird sie in den Präsidentschaftswahlkampf ziehen. Der 60-jährige Walz gilt durchaus als überraschende Wahl, lange wurden andere Namen als Favoriten gehandelt.
Bodenständig, kumpelhaft, schlagfertig
Doch Walz erschloss sich zuletzt eine immer größere Fangemeinde – unter anderem auch durch sein saloppes, schlagfertiges Auftreten. Walz war es auch, der als Erster den Begriff „weird“, übersetzt eigenartig oder seltsam, für das republikanische Spitzenduo bestehend aus Donald Trump und J. D. Vance einführte. In kurzer Zeit ging der Begriff viral, seitdem verwenden ihn die Demokraten am laufenden Band, um ihren schärfsten politischen Gegner verbal zu attackieren.
Walz gilt als bodenständiger, kumpelhafter Typ, dem Harris offenbar zutraut, Trump zumindest rhetorisch mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Gleichzeitig geht Harris mit ihm durchaus ein Wagnis ein. Denn Walz kann ihr mit Minnesota keinen „Swing State“ liefern – zuletzt gewannen die Republikaner den Bundesstaat 1972 unter Richard Nixon. Der von vielen favorisierte Gouverneur von Pennsylvania, Josh Shapiro, hätte ihr dagegen die womöglich wahlentscheidenden Stimmen eines wichtigen Wechselwählerstaates eingebracht.
Indem sie sich für Walz entschied, hofft Harris auf etwas anderes: Er soll die ländliche Bevölkerung der Staaten im Mittleren Westen zurück ins Lager der Demokraten holen, ja generell den Anschluss zur weißen Arbeiterschicht wiederherstellen, den die Partei seit längerem verloren hat. Aufgewachsen in einem 400-Seelen-Nest in Minnesotas Nachbarstaat Nebraska, gehört Walz nicht zur als abgehoben geltenden linksliberalen Elite, im Gegenteil. Er gilt als „Normalo“, wie es so schön heißt, der menschlich im Grunde bei allen ankommen kann.
Gesellschaftspolitisch genauso progressiv wie Harris
Nach dem Schulabschluss trat Walz der Nationalgarde bei, diente dort insgesamt 24 Jahre. Er unterrichtete Geografie, zunächst in der Kleinstadt Alliance in Nebraska, wo er auch seine heutige Ehefrau kennenlernte, später dann an einer High School in Minnesota. Dort coachte er das Footballteam und führte es 1999 zur Meisterschaft in dem Bundesstaat. Walz ist kein strikter Waffengegner, geht selbst jagen und konnte einst sogar auf die Unterstützung der „National Rifle Association“ zählen. Da er sich nach einem Schusswaffenattentat allerdings für striktere Waffengesetze aussprach, verlor er diese wieder.
2006 begann Walz‘ politische Karriere als Abgeordneter im Repräsentantenhaus. Dort war er für seine Bereitschaft zur überparteilichen Zusammenarbeit bekannt, schloss Freundschaften über politische Gräben hinweg. „Ich habe gelernt, Kompromisse einzugehen, ohne meine eigenen Werte zu verleugnen“, erklärte er dazu beim Wahlkampfauftritt am Dienstag.
Seit 2018 amtiert Walz, der zwei erwachsene Kinder hat, als Gouverneur von Minnesota. Als es seiner Partei 2022 sogar gelang, Mehrheiten in beiden Parlamentskammern des Staates zu erzielen, nutzte Walz die Gelegenheit, um trotz seines Rufs als Moderater eine extrem progressive Agenda durchzudrücken. So unterzeichnete er im vergangenen Jahr ein Gesetz, das den Bewohnern des Bundesstaates ein „Grundrecht“ auf Abtreibung, den Einsatz von Verhütungsmitteln sowie Fruchtbarkeitsbehandlungen gewährt. Bereits 2012 hatte ihn die Abtreibungsorganisation „Planned Parenthood“ mit einer Zustimmungsquote von 100 Prozent bewertet. „Abtreibung ist eine Gesundheitsdienstleistung“, erklärte er im März.
Keine rein familienfeindliche Agenda
Doch damit nicht genug: Walz unterstützt geschlechtsangleichende Behandlungen von Transgender-Personen, auch minderjährigen. Minnesota nennt er gar einen „Zufluchtsort“ für Menschen, die derartige Leistungen benötigten. Seine Argumentation: Wenn man über politisches Kapital verfüge, könne man es auch ausgeben. Diese Positionen stellen keinesfalls einen Sinneswandel dar: Denn bereits während seiner ersten Kandidatur für das Repräsentantenhaus 2006 sprach sich Walz, der dem lutherischen Glauben angehört, für die gleichgeschlechtliche Ehe aus – zu einem Zeitpunkt, als der nationale Trend noch lange nicht in diese Richtung zeigte. Zu seinen weiteren Projekten als Gouverneur zählte es, Marihuana zu legalisieren, Einwanderer ohne Papiere die Führerscheinprüfung ablegen zu lassen und kostenlose Mittagessen an Schulen einzuführen.
Zu behaupten, Walz verfolge durch die Bank eine familienfeindliche Agenda, würde jedoch zu kurz greifen. So ermöglichte er es den Bürgern Minnesotas, bezahlte Elternzeit zu nehmen und kündigte erst kürzlich an, für Paare mit Kindern steuerliche Erleichterungen einführen zu wollen. Unterm Strich bleiben dennoch erhebliche Zweifel, ob Harris dank ihrer Entscheidung für Walz im moderaten republikanischen Lager und bei Unabhängigen Stimmen abgreifen kann. Es gibt zahlreiche Studien die belegen, dass die Personalie des Vizekandidaten für den tatsächlichen Wahlausgang kaum eine Rolle spielt. Gut möglich, dass dies auch 2024 der Fall sein wird.
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