Die neue Bundesregierung steht: Gut sechs Wochen nach der Wahl am 23. Februar haben sich die Unionsparteien aus CDU/CSU und die SPD auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Vertreter der Koalitionspartner stellten den Vertrag mit dem Titel „Verantwortung für Deutschland“ am Mittwochnachmittag in Berlin vor. Die „Tagespost“ hat bereits einen ersten Blick in das knapp 150 Seiten umfassende Papier geworfen, das die Grundlage für die kommenden vier Jahre der Regierungszusammenarbeit zwischen Union und SPD bilden soll. Ein Überblick über einige wichtige Themen:
Abtreibung und Lebensschutz
Zu der von der SPD in den Verhandlungen geforderten Reform des Paragraf 218 StGB findet sich im Entwurf des Koalitionsvertrag nichts. Unter der Überschrift „Zur Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen“ heißt es auf Seite 102 lediglich: „Wir wollen Frauen, die ungewollt schwanger werden, in dieser sensiblen Lage umfassend unterstützen, um das ungeborene Leben bestmöglich zu schützen. Für Frauen in Konfliktsituationen wollen wir den Zugang zu medizinisch sicherer und wohnortnaher Versorgung ermöglichen.“ Im nachfolgenden Satz wird jedoch eine im Detail nicht näher ausgeführte Änderung der Finanzierung von Abtreibungen angekündigt. Dort heißt es: „Wir erweitern dabei die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus. Zudem werden wir die medizinische Weiterbildung stärken.“
„Geprüft“ werden sollen auch Änderungen bei der Abgabe von Kontrazeptiva. Unter der Überschrift „Verhütungsmittel“ heißt es: „Für uns gehört der Zugang zu Verhütungsmitteln zu einer verlässlichen Gesundheitsversorgung. Deswegen prüfen wir die Möglichkeit einer kostenlosen Abgabe von ärztlich verordneten Verhütungsmitteln für Frauen um weitere zwei Jahre bis zum 24. Lebensjahr.“ In einem als „Ergebnispapier“ bezeichneten Dokument der „Arbeitsgruppe Familie, Frauen, Jugend Senioren und Demokratie“ hatte es während der Verhandlungen noch geheißen: „Für uns gehört der Zugang zu Verhütungsmitteln zu einer verlässlichen Gesundheitsversorgung. Deswegen überprüfen wir die Möglichkeit einer solidarisch finanzierten Abgabe von Verhütungsmitteln für Frauen und Männer.“ Das war von einigen so interpretiert worden, als hätte sich die Union und SPD auf eine kostenlose Abgabe von Kontrazeptiva verständigt. Zum Thema Organspende finden sich nur zwei knappe Sätze im Koalitionsvertrag: „Wir wollen die Zahl von Organ- und Gewebespenden deutlich erhöhen und dafür die Voraussetzungen verbessern. Aufklärung und Bereitschaft sollen gefördert werden.“
In den Koalitionsvertrag geschafft hat es hingegen die von der CSU geforderte Mütterrente. Dazu heißt es auf Seite 20: „Wir werden die Mütterrente mit drei Rentenpunkten für alle vollenden – unabhängig vom Geburtsjahr der Kinder –, um gleiche Wertschätzung und Anerkennung für alle Mütter zu gewährleisten.“ Ihre Finanzierung erfolge „aus Steuermitteln“, „weil sie eine gesamtgesellschaftliche Leistung“ abbilde.
Selbstbestimmungsgesetz bleibt vorerst
Mit der Abschaffung des Selbstbestimmungsgesetzes (SBGG) hatten CDU/CSU während des Wahlkampfes zu viel versprochen. Statt einer Abschaffung soll das umstrittene Gesetz bis spätestens zum 31. Juli 2026 evaluiert werden und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche und den Schutz von Frauen.
Mit dem Selbstbestimmungsgesetz, einem der gesellschaftspolitischen Leuchtturmprojekte der Ampel-Koalition, können Personen ab 14 Jahren Namen und Geschlechtseintrag standesamtlich ändern lassen – ohne jede Voraussetzung: Psychologische oder psychiatrische Gutachten sind nicht mehr nötig. Bei Minderjährigen ab 14 Jahren braucht es das Einverständnis der Eltern oder eines Familiengerichts; Eltern können den Geschlechtseintrag ihres Kindes bereits ab dem Säuglingsalter ändern lassen. Das sogenannte Offenbarungsverbot stellt die Ansprache einer Person mit früherem Namen und Geschlecht unter Strafe. Einrichtungen wie Fitnessclubs oder Saunen müssen laut SBGG Transfrauen – also biologische Männer – wie Frauen behandeln.
Das Kapitel zu „Familien, Frauen, Jugend, Senioren und Demokratie“ beschäftigt sich auch mit dem Umgang mit Prostitution: Was das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz angeht, heißt es, dass die Bundesrepublik „zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“ sei, dessen Opfer „fast ausnahmslos Frauen“ seien. Folglich soll zu genanntem Gesetz auf der Basis von Evaluationsergebnissen und „mit Unterstützung einer unabhängigen Experten-Kommission“ bedarfsweise eine Nachbesserung erfolgen.
So wollen Union und SPD das Thema Migration angehen
Das Kapitel zur Migrationspolitik dürfte wohl eines derjenigen sein, die bereits im Vorfeld mit großer Spannung erwartet worden waren, hatte der CDU-Parteichef und künftige Bundeskanzler Friedrich Merz doch vor der Bundestagswahl von einer „Wende“ gesprochen, die allerdings an der SPD zu scheitern drohte. Ein Streitthema dabei: Zurückweisungen an der Grenze. Dazu heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen. Wir wollen alle rechtsstaatlichen Maßnahmen ergreifen, um die irreguläre Migration zu reduzieren.“ Grenzkontrollen zu allen deutschen Grenzen seien bis zu einem funktionierenden Außengrenzschutz und der Erfüllung der bestehenden Dublin- und GEAS-Regelungen (Gemeinsames Europäisches Asylsystem) durch die Europäische Gemeinschaft fortzusetzen. Gleichzeitig wolle man die Liste der sicheren Herkunftsstaaten erweitern, begonnen mit der Einstufung von Algerien, Indien, Marokko und Tunesien.
Zum Thema Ausweisung heißt es, wer den Aufenthalt in Deutschland missbrauche, indem er hier „nicht unerheblich straffällig wird oder gewalttätige Stellvertreterkonflikte auf deutschem Boden austrägt, dessen Aufenthalt muss beendet werden“. Künftig müsse daher gelten: „Bei schweren Straftaten führt die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zu einer Regelausweisung.“ Dies gelte insbesondere bei Straftaten gegen Leib und Leben, gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bei Volksverhetzung, bei antisemitisch motivierten Straftaten sowie bei Widerstand und einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte. „Abgelehnte Asylbewerber müssen unser Land wieder verlassen“, heißt es weiter. Die schwarz-rote Koalition will die freiwillige Rückkehr mit Anreizen und verstärkter Rückkehrberatung besser unterstützen. „Wenn dies nicht freiwillig geschieht, muss die Ausreisepflicht staatlich durchgesetzt werden.“
Darüber hinaus soll es keine neuen freiwilligen Aufnahmeprogramme mehr geben. Bereits laufende Programme, etwa mit Afghanistan, sollen „soweit wie möglich“ beendet werden. Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wird befristet für zwei Jahre ausgesetzt – Härtefälle sollen davon unberührt bleiben. Zudem wolle man neue Migrationsabkommen abschließen, „um legale Zuwanderung zu steuern und die Rücknahmebereitschaft sicherzustellen“.
Desinformation, Meinungsfreiheit, Demokratieförderung
Die umstrittenen Passagen zur Bekämpfung von „Desinformation“ haben SPD und Union unverändert aus dem zwischenzeitlichen Arbeitspapier übernommen. So heißt es auch im fertigen Koalitionsvertrag, die „bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ sei nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt, weshalb „die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können“ müsse. Unklar ist, ob und wie genau die Koalition sich die Neugestaltung dieser gesetzlichen Vorgaben vorstellt. „Hass und Hetze“ gelten bislang als juristisch unscharf begrenzte, und deshalb umstrittene Begriffe; immer wieder wurden von Juristen in diesem Kontext Befürchtungen über negative Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit geäußert. Weiter heißt es im Vertrag, der „massenhafte und koordinierte Einsatz von Bots und Fake Accounts“ müsse verboten werden, für Online-Plattformen will die Koalition eine „verschärfte Haftung für Inhalte“ prüfen. Die europäische Regulierung der Plattformen durch den „Digital Services Act“ müsse „stringent umgesetzt und weiterentwickelt“ werden.
Endgültig aufatmen dürften zahlreiche politisch arbeitende NGOs: Wie bereits das Arbeitspapier ist auch im Koalitionsvertrag die Rede davon, dass „verstärkt in die Wehrhaftigkeit der Demokratie“ investiert werden müsse. „Wir unterstreichen die Bedeutung gemeinnütziger Organisationen, engagierter Vereine und zivilgesellschaftlicher Akteure als zentrale Säulen unserer Gesellschaft“, weshalb das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ fortgeführt werde. Nicht in den Vertrag geschafft hat es der Wunsch der Union, das Programm künftig im Innenministerium anzusiedeln, das an die CSU gehen soll. Kurz nach der Wahl hatte die CDU noch einen Fragenkatalog an die amtierende Regierung geschickt, der angesichts der Demonstrationen gegen die CDU auch Kritik an der mangelnden politischen Neutralität öffentlich geförderter zivilgesellschaftlicher Organisationen vorbrachte.
Diese Distanz ist nun nur noch insofern spürbar, als es im Koalitionsvertrag heißt, man werde eine „unabhängige Überprüfung dieses Programms in Bezug auf Zielerreichung und Wirkung veranlassen“ – und gegebenenfalls weitere Maßnahmen für „rechtssichere, altersunabhängige Arbeit gegen Extremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ergreifen. Auch hier ist die Detailformulierung interessant: Politische Bildung wird zu großen Teilen über den „Kinder- und Jugendplan“ des Bundes finanziert, der sich primär nicht an Erwachsene richtet. Offenbar sollen nun auch Erwachsene stärker in den Genuss politischer Bildung kommen können. Allerdings soll auch der Kinder- und Jugendplan „in einem ersten Schritt“ zehn Prozent besser ausgestattet werden; anschließend wollen die Koalitionäre die Finanzierung „dynamisieren“. Davon profitieren dürften nicht zuletzt für Institutionen der katholischen politischen Bildung, wie sie in den diözesanen Bildungshäusern beheimatet sind. DT/reh/fha/mlu/jna/jra
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.