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1:0 für Netanjahu

Die Justizreform in Israel ist ein Drama in mehreren Akten – das als Tragödie enden könnte.
Proteste in Israel
Foto: Tsafrir Abayov (AP) | Die umstrittene Justizreform der rechtsreligiösen Regierung treibt in Israel weiterhin zehntausende Menschen auf die Straße. Das Land steht vor einer Zerreißprobe.

Ende Juli hat sich das israelische Parlament in die Sommerpause verabschiedet - mit einem Triumph für die rechtsreligiöse Regierungskoalition unter Benjamin Netanjahu. Es kam, wie es sich seit Wochen angekündigt hatte: Das israelische Parlament billigte noch kurz vor der Sitzungspause einen Teil der umstrittenen Justizreform in einem kompromisslosen Eilverfahren.

Mit 64 von 120 Abgeordneten – wobei die 56 Abgeordneten der Opposition die Abstimmung boykottierten - wurde das „Gesetz zur Einschränkung der Angemessenheitsprüfung durch den Obersten Gerichtshof“ verabschiedet. Heftiger Widerstand seitens der Zivilgesellschaft, Kompromissvorschläge des Staatspräsidenten und Dialogbereitschaft der Opposition wurden ignoriert. Im Fußball würde man sagen: 1:0 für die Regierung - mit dem Unterschied, dass es sich hier um keinen sportlichen Wettkampf handelt, sondern um die zukünftige Ausrichtung des Staates Israels, die auf dem Spiel steht.

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Hintergrund der in Israel seit Jahresbeginn währenden Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition, Interventionen des Staatspräsidenten und anhaltenden Demonstrationen unterschiedlicher Sektoren der Gesellschaft sind Elemente der sogenannten „Reform“ der Justiz, die die Regierung unter Benjamin Netanjahu als Prestigeprojekt um jeden Preis umfassend implementieren will. Führende Juristen des Landes sind sich einig, dass es einer Justizreform in Israel bedarf – in Ermangelung einer formalen Verfassung und einer ausgleichenden zweiten Kammer sowie eines nicht vorhandenen Vetorechts des Staatspräsidenten.

Über Ausmaß, Inhalte sowie Art und Weise der Implementierung und Kommunikation der Reform lässt sich allerdings streiten: Kritiker der Reform interpretieren die Maßnahmen als Justizumbau und legen es als Bedrohung des demokratischen Charakters des Staates Israels aus, während Reformbefürworter die Diktatur der Justiz in Israel anprangern. Ausschlaggebend für die vehemente Kritik an dem Reformprojekt war insbesondere ein Kernelement, die sogenannte „override clause“ gewesen, wonach die Knesset in der Lage wäre, Urteile des Obersten Gerichtshofes mit einer einfachen Mehrheit von 61 Stimmen außer Kraft zu setzen, womit de facto die Gewaltenteilung aufs Spiel gesetzt würde. Daneben standen noch weitere vier Reformvorhaben zur Debatte: Abschaffung der Angemessenheitsprüfung; Abschaffung der Möglichkeit des Obersten Gerichtshofs, grundlegende Gesetze zu kippen; Umwandlung der Rechtsberater in den Ministerien in politisch Beauftragte und Änderung der Zusammensetzung des Richterwahlausschusses.

Was führt die Regierung in Wahrheit im Schilde?

In den letzten Monaten war die Regierung zunächst gezwungen, mit ihren Plänen in der ursprünglich intendierten Form zurückzurudern und die Justizreform temporär auszusetzen. Es waren öffentliche Sicherheitsbedenken aus den eigenen Reihen geäußert worden, die eine Protestwelle und einen nie dagewesenen Generalstreik zur Folge hatten. Benjamin Netanjahu hatte zudem angekündigt, den strittigsten Teil der Reform, nämlich die „override clause“, nicht mehr weiterzuverfolgen, um die Gemüter zu beruhigen. Jedoch zielte die Reform auch auf andere Elemente der Kompetenz und den Prüfungsmaßstab des Obersten Gerichtes – so beispielsweise die Einschränkung der Angemessenheitsprüfung durch den Obersten Gerichtshof. Dieser Teil wurde nun am 24. Juli von der Knesset in einem beispiellosen Eilverfahren verabschiedet.

Was von der Regierung als „notwendige Stärkung der Demokratie“ vermarktet wird, bedeutet de facto die Abschaffung der gerichtlichen Kontrolle und die Übertragung unbegrenzter Macht an die Regierungskoalition, so der Standpunkt führender Juristen wie Professor Suzie Navot vom Israel Democracy Institute, die befürchtet: „Nur eine Regierung, die extremistische und korrupte Entscheidungen treffen will, würde sich vor der Angemessenheitsprüfung fürchten.“

Die Pläne zur Justizreform hatten in Israel seit Beginn des Jahres eine ungeahnte öffentliche Mobilisierung der Gesellschaft zur Folge. Demonstrationen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen gegen die Justizreform setzten sich in allen Landesteilen kontinuierlich fort; allein in ihrer numerischen Stärke sind sie - in Relation zur Bevölkerungszahl des Landes – ein beeindruckendes Zeichen einer lebendigen Zivilgesellschaft. Es waren von Anfang an nicht die üblichen Proteste linker Aktivisten, sondern Proteste, die sich durch alle gesellschaftlichen Sektoren ziehen und über parteipolitische Grenzen hinwegsetzen. Hinzu kamen Demonstrationen von Vertretern der Hightech-Branche und der Wirtschaft, die Angst um das internationale Image des Staates und damit um ihre Existenz haben. Vor einigen Wochen begann sich auch Widerstand aus dem Militär zu regen, das eine besondere Bedeutung mit Blick auf die Sicherheit des Landes hat.

Gesellschaftliche Polarisierung wird immer deutlicher

Reservisten der Armee beteiligten sich an den Demonstrationen oder drohten mit Dienstverweigerung. In unterschiedlichen Eskalationsstufen der Demonstrationen - sogenannten Tagen der „Störung“ und des „Widerstandes“, in denen sich auch Cyberexperten und Luftwaffen-Reservisten und erstmals auch medizinisches Personal engagierten - erreichten die Protestaktionen unerwartete Ausmaße. Kulminationspunkt und Sinnbild der Protestaktionen war der viertägige Marsch von Tel Aviv nach Jerusalem einer immer größer werdenden Menschenmenge von letztlich 80.000 Teilnehmern, um vor der Knesset am Tag der richtungsweisenden Gesetzeslesung ein Zeichen zu setzen.

Doch weder die Protestaktionen weiter Teile der Gesellschaft noch die Vermittlungsbemühungen des israelischen Staatspräsidenten, der seit Beginn der Krise mahnt und sich bemüht, die divergierenden Parteien zum Dialog zusammenzubringen, trugen Früchte. Die gesellschaftliche Polarisierung in Israel ist in den letzten Monaten sehr deutlich geworden, aber ebenso deutlich wurde, dass nicht nur der gesellschaftliche Zusammenhalt, sondern auch die Kohäsion der Streitkräfte in Gefahr ist; die offene Auseinandersetzung der Regierung mit den Streitkräften während der Protestaktionen ist ein Beispiel dafür. Insbesondere die Vertreter der Streitkräfte, von denen einige in zahlreichen Kriegen ihr Leben riskiert haben, unter anderem auch um die Demokratie zu erhalten, werden gerade jäh ihres Traumes beraubt.

Fest steht: Israel befindet sich in einer seiner schwersten Krisen. Es steht die nationale Resilienz des Staates auf dem Spiel – einst das Fundament des Landes, auf dem Israel vor 75 Jahren aufgebaut wurde. Nationale Sicherheit und Widerstandsfähigkeit stehen in engem Zusammenhang mit der äußeren Sicherheit des Landes und der Glaubwürdigkeit gegenüber den internationalen Partnern.

Auch im Likud wächst Kritik

Sicherheit war eines der entscheidenden Themen, mit dem sich Benjamin Netanjahu im November letzten Jahres im Wahlkampf präsentierte und sein Amt als Premierminister mit dem Anspruch antrat, der Bevölkerung die innere und äußere Sicherheit zu garantieren. Analysten werfen ihm vor – gerade vor dem Hintergrund der Justizreform - das Land nun stattdessen in die permanente Unsicherheit geführt zu haben. Die extrem rechte Regierungskoalition wird mit einer „Diebesbande“ verglichen, die sich grundlegender Elemente der Demokratie bedient und große Teile der Bevölkerung in Geiselhaft nimmt. Die Beobachter sind sich nicht sicher, ob dieser Missbrauch an der Gesellschaft bewusst geschieht oder Zeichen kompletten Kontrollverlustes beziehungsweise der Entkoppelung von der Bevölkerung ist. Auch die Tatsache, dass US-Ratingagenturen Israels Kreditwürdigkeit in den letzten Tagen herabgestuft haben, scheint den Premier unbeeindruckt zu lassen.

Netanjahu ist der Gegeißelte, der sich nicht aus den Fängen rechtextremer Kräfte befreien kann, ohne selbst entscheidenden Machtverlust hinnehmen zu müssen - ein Dilemma, das sich nicht von selbst auflösen wird. Netanjahu ist bemüht, eine gefährliche Balance zu halten -  einerseits den Hardlinern in seiner Koalition glaubhaft zu versichern, dass er die Justizreform in ihrer Gesamtheit um jeden Preis implementieren werde und andererseits Teile der Gesellschaft und die Opposition zu beschwichtigen, die Reform deutlich abzuschwächen. Hinzu kommen die mehr oder weniger direkt übermittelten Bedenken der Verbündeten aus dem Ausland; aber auf Dauer wird er es nicht allen gleichzeitig recht machen können.
Die Sommerpause der Knesset wird weder zur Abkühlung der Gemüter beitragen noch die gesellschaftlichen Risse kitten. Die Zivilgesellschaft, die sich bereits sieben Monate friedlich für die Demokratie eingesetzt hat, wird weiter für den Erhalt der Gewaltenteilung kämpfen, denn -  wie Staatspräsident Jitzchak Herzog es in seiner Rede vor dem US Kongress formulierte: „Israel hat Demokratie in seiner DNA“.

Aber es besteht auch die potentielle Gefahr, dass die Proteste aggressiver und die Gegenreaktionen entsprechend vehementer werden. Auf der anderen Seite wird sich auch die Regierung nicht mit ihrem Etappensieg zufriedengeben, da es nur ein Teil eines größeren Ganzen ist. Es gibt bereits konkrete Pläne, im nächsten Schritt die Zusammensetzung des Richterausschusses anzugehen.

Endet das Drama in einer Tragödie?

Noch ist offen, ob das Drama als Tragödie endet. Theoretisch gibt es die Möglichkeit, dass Netanjahu eine Kehrtwende einleitet. Aber er selbst ist die tragische Figur in dem Schauspiel und gerade die Elemente der Justizreform machen ihn weiter gegenüber seinen Koalitionspartnern erpressbar. Oppositionspolitiker Benny Gantz könnte vor dem Hintergrund der Zustimmungswerte zu seiner Partei „Nationale Einheit“, die nach aktuellen Umfragen mit dem Likud gleichzieht, zur heroischen Figur werden, indem er sich als zusätzlichen Koalitionspartner anbietet, um die Extreme auszubalancieren; doch nichts deutet darauf hin, dass er dieses Risiko eingehen will. Inzwischen werden vereinzelt Stimmen innerhalb des Likud laut, künftig nur noch Entscheidungen der Regierungskoalition zur Justizreform mittragen zu wollen, wenn sie auf breitem Konsens basieren – ein innerparteilicher Coup indes ist derzeit nicht absehbar.

Justizminister Yariv Levin, der Architekt der Justizreform, pries die Verabschiedung des Gesetzes vom 24. Juli als „ersten Schritt in dem historischen Prozess der Sanierung des Justizsystems“. Das eigentlich Historische indes ist die Krise der inneren Verfasstheit, in die das Land geraten ist und die Demokratie vor große Herausforderungen stellt. Staatspräsident Herzog ruft weiterhin zum Dialog der konfligierenden Parteien auf. Es wird Zeit, dass er gehört wird, bevor der letzte Vorhang in diesem Mehrakter fällt.


Dr. Beatrice Gorawantschy ist Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Jerusalem.

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