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Chaos in Israel

Nach der Verabschiedung eines wichtigen Teils der umstrittenen Justizreform steht das Land vor der Zerreißprobe.
Proteste begleiteten die Verabschiedung der umstrittenen Justizreform
Foto: IMAGO/Gili Yaari (www.imago-images.de) | Wütende Proteste begleiteten die Verabschiedung der umstrittenen Justizreform in Israel.

Eine vor Wut schäumende Opposition sowie tausende aufgebrachte Menschen auf den Straßen: Das am Montag verabschiedete Kernelement der geplanten Justizreform der Regierung Netanjahu heizt die ohnehin schon fragile Stimmung in Israel noch weiter an.

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Opposition boykottierte die Abstimmung geschlossen

Für die Abstimmung in der Knesset erschien Ministerpräsident Benjamin Netanjahu trotz seiner Herz-OP kurz zuvor. Er hätte sich den Weg sparen können: Denn die Opposition boykottierte geschlossen die Abstimmung über jenen Passus der Justizreform, der es den Richtern von Israels Oberstem Gericht ab sofort untersagt, eine Entscheidung der Regierung oder einzelner Minister als „unangemessen“ zu bewerten. Kritiker befürchten, dass dies Korruption und damit auch die willkürliche Besetzung wichtiger Posten und Entlassungen begünstigt. 

So sorgte eine relativ kleine Mehrheit von 64 zu 120 Stimmen dafür, dass ein Gesetzesvorhaben, welches die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten bereits seit Wochen in Atem hält, am Ende mühelos die entscheidende Hürde nehmen konnte. Zuvor war eine von Israels Staatspräsident Jitzchak Herzog angestoßene Vermittlung zwischen Regierung und Opposition gescheitert.

Stemmt sich Israels Oberstes Gericht gegen seine eigene Entmachtung?

Doch die Opposition lässt nicht locker: An diesem Dienstag will die Opposition eine Petition gegen das angenommene Gesetz beim Obersten Gericht einreichen – also ausgerechnet bei jenem Verfassungsorgan, um dessen Entmachtung es beim Gesetzespaket des rechtsreligiösen Kabinetts Netanjahu gilt. 

 

Und das innerisraelische Chaos droht nicht nur weiterzugehen, sondern sich zu verschärfen. Denn der Chef des Gewerkschaftsverbands Histadrut, Arnon Bar-David, stellte am Montag einen Generalstreik in Aussicht. Jeder „einseitige Schritt“ der Justizreform hätte „schwerwiegende Folgen“, sagte er. „Falls nötig“ werde es einen Generalstreik geben. Und auch zahlreiche Militärs und Reservisten drohen bereits seit längerem, ihren für Israel so wichtigen Dienst nicht aufzunehmen, sollte es zu einer vollständigen Verabschiedung der Justizreform kommen. Eines steht fest: Die kommenden Wochen, wenn nicht sogar Tage, werden für Israels Demokratie entscheidend sein.

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Stefan Ahrens Benjamin Netanjahu

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