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Amiens: Wo Martin seinen Mantel teilte

Die größte gotische Kathedrale Frankreichs hat zwei Weltkriege überlebt. Heute lässt eine Laserinstallation die gotischen Portale erstrahlen.
Amiens mit Kathedrale
Foto: Icon Bild drucken In neuem Tab öffnen 24.11.2023 IMAGO Bildnummer: 0386549918 6500x4855 Pixel IMAGO / Pond5 Images | Könnte schlimmer sein: In den Weltkriegen wurde die Stadt an der Somme großflächig zerstört, doch die Kathedrale blieb unversehrt.

Von einer „Kathedrale der Superlative“ spricht Gästeführerin Juliette auf dem Platz vor dem gotischen Dom von Amiens in Nordfrankreich: Mit einem 148 Meter langen Kirchenschiff, einem 42 Meter hohen Gewölbe, 24 Kapellen, 7 725 Quadratmetern Grundfläche und einem Innenraum von 200.000 Kubikmetern ist Notre-Dame d?miens fast doppelt so groß wie Notre-Dame in Paris. Kein Wunder, dass man in der Bischofsstadt an der Somme stolz auf das Bauwerk ist, zudem entstanden in Rekordzeit zwischen 1220 und 1269. Vor vier Jahren feierte man den 800. Geburtstag des Bauwerks, das seit 1981 auch zum Weltkulturerbe gehört; Damit ist die Kathedrale in Amiens übrigens nicht allein, seit 1998 ist die Stadt auch als Etappe auf dem Weg nach Santiago de Compostela offiziell Weltkulturerbe, und schließlich ist auch der Stadtturm Beffroi, als Bergfried ein Symbol der Stadt, als Weltukulturerbe verzeichnet. Eine besondere Attraktion an der Kathedrale ist das abendliche Lichterspiel im Chroma-Verfahren, das mit größter Präzision die Figuren der drei großen Portale in Farbe zeigt, so wie sie wohl auch im Mittelalter zu sehen waren. Zu sehen ist die Lichtinstallation vom 05. Juli bis zum 15. September sowie im Dezember 2024.

Die Laser-Beleuchtung der drei Portale erzählt Geschichte, erläutert Szenen der Bibel: So ist im zentralen Portal der segnende Christus von Aposteln und Propheten umgeben, dazu im Tympanon das Jüngste Gericht. Das St. Firmin-Portal gruppiert sich um den Bischof mit Stab, im Tympanon stellen zwei Szenen die Überführung der Reliquien des heiligen Firmin dar, begleitet von sechs „Bischofskollegen“. Im Beau-Dieu Portal geht es um das irdische Leben Jesu: Die Muttergottes mit dem Kind in der Portalmitte wird ergänzt durch die Szenen der Verkündigung, des Besuchs bei Elisabeth und der Darstellung im Tempel. Nicht fehlen dürfen Ereignisse aus dem Leben der Gottesmutter, wie Tod, Himmelfahrt und Krönung Mariens.

Reliquie von Johannes dem Täufer

1236 beginnt man mit der Gestaltung der Fassade. Im ikonographischen Konzept mit seiner außergewöhnlichen Komplexität und Geschlossenheit sehen Kunstgeschichtler das Werk eines Theologen oder eines Klerikers. Doch weit mehr: Das Konzept wird durchgehalten, die Ausführenden, sicher von unterschiedlichen Schulen, schaffen ihre Figuren in einheitlichem Stil, wahrscheinlich unter der Führung eines Meisters, der die zentralen Statuen gestaltet und andere Teile seinen Mitarbeitern überlässt – manche Figuren und Gesichter sind stark vereinfacht.

Bei einem Rundgang durch das immense Bauwerk findet der Besucher das 234 Meter lange Labyrinth im Fußboden, das einst als Büßerweg für die Gläubigen diente, die dem Weg auf schwarzen Streifen folgten. Hinter dem Lettner beeindruckt das 110-sitzige Chorgestühl mit 4.000 Figuren aus dem 16. Jahrhundert. Weitere Details, wie der weinende Engel von Nicolas Blasser, die große Orgel und die Hochreliefs mit der Darstellung von Heiligen- und Bischofslegenden, wie Bischof Firmin, ziehen den Blick auf sich. Besonders stolz ist man in Amiens auf eine Reliquie von Johannes dem Täufer, welche Wallon de Sarton, Domherr aus Picquigny, vor über 800 Jahren vom vierten Kreuzzug nach Konstantinopel mitgebracht hat, nun im linken Chorumgang ausgestellt.

In den Kriegen zu 60 Prozent zerstört

Amiens, beiderseits der Somme und ihres Tales gelegen, gerät im März 1918 und im Juni 1940 unter die Feuerwalze zweier Weltkriege und wird 1940 zu 60 Prozent zerstört – nur die Kathedrale steht praktisch unversehrt im Trümmerfeld. Die Stadt Amiens braucht 40 Jahre für den Wiederaufbau. Der Architekt Auguste Perret steuert einen 103 Meter hohen Turm bei, 1964 bekommt Amiens eine Universität, in einer alten Zitadelle von 1598.

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Nur ein paar Schritte von Kathedrale und Stadtzentrum entfernt liegt eine Oase von Flora, Fauna und Stille: Die „Hortillonages“, schwimmende Gärten mit 65 Kilometern Wasserwegen und Inselparzellen. Heute steht das 300 Hektar große Gebiet, in dem einst Torf gestochen und dann Gemüse angebaut wurde, unter Naturschutz. Mit Elektrobooten kann man mit einem Guide die einmalige Anlage erkunden oder auf Treidelpfaden zu Fuß entdecken. Ebenfalls am Wasser liegt das Saint-Leu-Viertel, „kleines Venedig des Nordens“ genannt. Die Häuser, bunte Fassaden und Terrassen der Bistros sind einladend. An die Stelle der Handwerker und Mühlen ist ein Teil der Universität getreten. Sie trägt den Namen des Schriftstellers Jules Verne, der von 1871 bis zu seinem Tode 1904 in Amiens lebte und in seinem Haus (heute Museum) 34 seiner teils sehr imaginären Romane verfasste.

Macarons á là Macron

Grundlegend saniert präsentiert sich das Musée de Picardie als eine der großen Kunstsammlungen des französischen Nordens. Als eines der ersten Gebäude zur Ausstellung von Kunst in Frankreich zwischen 1855 und 1867 erbaut, verdankt Amiens das Musée de Picardie der Société des Antiquaires de Picardie und Kaiser Napoleon III.. Die Sammlungen reichen von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart.
Gar nicht weit von der Kathedrale erinnert am Justizpalast eine Bronzetafel an eine Legende, die sich im fernen Dezember 334 am Rande von Ambianorum, der heutigen Stadt Amiens, abgespielt hat. Am (inzwischen verschwundenen) Stadttor teilt ein römischer Legionär seinen Mantel mit einem frierenden Bettler – es ist der spätere Bischof Martin von Tours, dessen Botschaft vom Teilen weit über christliche Kernmilieus hinaus junge wie alte Menschen inspiriert.

Bevor man Amiens verlässt, sollte man unbedingt die Macarons der Patisserien wie Maison Trogneux oder Maison Macarons d?miens probiert haben. Denn Amiens ist berühmt für seine köstlichen, traditionellen Macarons. Sie haben eine besondere Textur und einen einzigartigen Geschmack: Das Geheimnis ist die Verwendung lokaler Zutaten und traditioneller Rezepte. Es gibt viele Geschmacksrichtungen, dazu kommen manchmal innovative Zutaten wie Lavendel oder Earl Grey Tea. Seitdem der heutige Staatspräsident Emmanuel Macron in das Haus Trogneux eingeheiratet hat, pilgern Fans zur Patisserie Trogneux, die Macarons bereits in der sechsten Generation herstellt. Und dann wäre da noch die „ficelle picarde“. Kann man Bindfaden, wie ficelle wörtlich zu übersetzen wäre, auch essen? Die ficelle picarde, ein herzhaftes Gericht, ist sättigend, besteht es doch aus einem dünnen Pfannkuchen, der mit Schinken, Champignons oder Lachs gefüllt wird, über den eine Käsesauce gegossen wird. Oft kommt auch noch Lauch (poireaux) in die Sauce, ebenso wie beim Flamiche aux Poireaux, einer Art Quiche d?miens, gefüllt mit Lauch, Speck und Sahne. Stolz ist man vor Ort auch auf die von kleinen, lokalen Brauereien hergestellte Biersorten.

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