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Das Selbstbestimmungsgesetz eckt an

Den einen geht es nicht weit genug, für die anderen ist es ein unzulässiger Angriff auf Biologie, weibliche Schutzräume und körperliche Integrität: Ein Streitgespräch zum Selbstbestimmungsgesetz offenbart, wie tief der Riss zwischen Feministen und Transaktivisten inzwischen geht
Demonstrationsschild "Selbstbestimmung jetzt"
Foto: IMAGO/Zoonar.com/Eva-Maria Pollich (www.imago-images.de) | Im Mai erklärte die Psychotherapeutin und linke Feministin Ingeborg Kraus im Interview mit dieser Zeitung, warum sie das Selbstbestimmungsgesetz ablehnt.

Im April verabschiedete der Deutsche Bundestag das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG), das zum 1. November 2024 das Transsexuellengesetz (TSG) ablöst. Das SBGG ermöglicht eine Änderung des Geschlechtseintrags und des Vornamens durch eine einfache „Erklärung mit Eigenversicherung“ gegenüber dem Standesamt. Eine psychologische Begutachtung fällt weg. Minderjährige ab 14 Jahren können die Erklärung mit Zustimmung eines Sorgeberechtigten selbst abgeben. 

Zu den vehementesten Gegnern des Gesetzes gehört ein Teil der feministischen Bewegung – aus einem einfachen Grund: Transfrauen, also biologische Männer, sind für sie keine Frauen. Die wohl prominentesten Vertreter dieser Richtung sind Alice Schwarzer und das feministische Magazin „Emma“. Die feministischen Kritikerinnen des Selbstbestimmungsgesetzes fürchten, dass biologische Männer das Selbstbestimmungsgesetz nutzen können, um in weibliche Schutzräume einzudringen oder sich andere Vorteile zu verschaffen. Das Nachrichtenportal „NIUS“ berichtete Ende Mai von einem biologischen Mann, der sich als Transfrau in einem Frauen-Fitnessstudio anmelden wollte, jedoch von der Inhaberin abgelehnt wurde. In einem Schreiben, aus dem NIUS zitiert, forderte die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung Ferda Ataman die Inhaberin des Fitnessstudios zu einer freiwilligen Entschädigungszahlung von 1.000 Euro auf. Im März berichtete „Emma“, dass sich seit Einführung des spanischen Selbstbestimmungsgesetzes in einer einzigen spanischen Region 41 Soldaten zur Frau erklärt hätten – augenscheinlich, um dadurch finanzielle und arbeitsrechtliche Vorteile zu erhalten.

Im Mai erklärte die Psychotherapeutin und linke Feministin Ingeborg Kraus im Interview mit dieser Zeitung, warum sie das Selbstbestimmungsgesetz ablehnt. Julia Steenken von der Deutschen Gesellschaft für Trans* und Inter*geschlechtlichkeit e.V. (dgti) widersprach. Beide erklärten sich zu einem durch diese Zeitung moderierten Streitgespräch bereit. Warum die „Tagespost“ als katholische Zeitung diesem Gespräch einen breiten Raum gibt? Feminismus und Transaktivismus sind zwei wirkmächtige ideologische Strömungen, die in der Bundesrepublik seit Jahren im großen Stil Parlamente, Bildungseinrichtungen und Fördermittel bewegen. Aus dem „Pride Day“ am 28. Juni ist mittlerweile ein ganzer „Pride Month“ geworden, der jedes Jahr im Juni auch von Firmen und staatlichen Institutionen aufwändig gefeiert wird und die Regenbogenfahne allgegenwärtig macht. Jedoch zeigt der Konflikt zwischen Transaktivisten und (zum Teil lesbischen) Feministinnen: Ein einheitliches LGBT-Milieu gibt es schon lange nicht mehr, wenn es überhaupt jemals existierte.



Frau Kraus, Frau Steenken, Sie beide lehnen das Selbstbestimmungsgesetz in seiner jetzigen Form ab. Frau Steenken, was sind Ihre Hauptkritikpunkte am Selbstbestimmungsgesetz (SBGG)?

Julia Steenken: Das Gesetz in dieser Ausgestaltung wollte eigentlich keiner haben. Ich habe aus mehreren Gründen meine Zweifel, ob das SBGG in seiner jetzigen Form Gnade vor den Augen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) findet. Es ist mit der heißen Nadel gestrickt, ohne großartige Berücksichtigung der Transcommunity verfasst worden und weit hinter den Möglichkeiten zurückgeblieben, was nun die Betroffenen ausbaden müssen. 

Wie hätte das Gesetz Ihrer Meinung nach aussehen müssen?

JS: Laut einem Urteil des BVerfG von 1978 ist die Berichtigung des Geschlechtseintrages ein Recht, das sich unmittelbar aus dem Grundgesetz ableitet. Das muss man berücksichtigen und anerkennen, andernfalls handelt man nicht im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die einzige Anforderung, die das BVerfG stellt, ist eine objektivierbare Grundlage zur Berichtigung der Geschlechtszugehörigkeit. Diese objektivierbare Grundlage ist die Selbstäußerung der Person. Das SBGG besagt nun, dass diese Selbstäußerung in Form einer Erklärung vor dem Standesamt ausreicht, um den Geschlechtseintrag berichtigen zu lassen. Ich glaube aber, dass diese Erklärung vor einem Gericht abzugeben sein sollte, denn die Berichtigung eines Geschlechtseintrags ist Schaffung neuen Rechts und dies kann nur durch ein Gericht erfolgen, nicht aber durch ein Exekutivorgan, wie es das Standesamt ist. 

Ingeborg Kraus: Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, wollen Sie, dass die Änderung des Geschlechtseintrags weniger anfechtbar wird, dadurch, dass sie durch ein Gericht ausgesprochen wird. Es geht Ihnen also um eine Verschärfung des Gesetzes?

JS: Ja, es geht mir darum, die Rechtsposition abzusichern. Außerdem schafft das SBGG mit dem legal nicht definierten Konstrukt der „Geschlechtsidentität“ eine ganz neue Geschlechtskategorie und verlässt damit den Weg, den das BVerfG vorgezeichnet hat: Denn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ging in seinen Entscheiden von 1978 und 2011 immer von einem einheitlichen Geschlechtsbegriff aus, der nicht zwingend an körperlichen Gegebenheiten festzumachen ist. In den Augen des BVerfG ist es unerheblich, ob der Geschlechtseintrag bei der Geburt zugewiesen wurde oder im Nachgang durch einen Verwaltungsakt im Rahmen der Personenstandsänderung berichtigt worden ist. 
Ich gehe außerdem davon aus, dass das Missbrauchsrisiko ziemlich gering ist. Daher ist auch ein weiterer Kritikpunkt: Das SBGG betont das Hausrecht, welches das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aushebelt.

"Ich gehe davon aus, dass das
Missbrauchsrisiko ziemlich gering ist"

IK: Also geht Ihnen das SBGG nicht weit genug? Ich habe Sie so verstanden, dass Sie nicht wollen, dass Frauen sich beschweren dürfen, wenn sie einen biologischen Mann identifizieren, der sich mithilfe des SBGG als angebliche Transfrau Zugang zu einem weiblichen Schutzraum verschaffen will. Mit dem SBGG kann jeder ohne jegliche Voraussetzung zum Standesamt gehen und dort eine Änderung seines Personenstandes durchführen lassen. Zu glauben, das würde nicht missbraucht, finde ich naiv.

JS: Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz ist ein Antidiskriminierungsgesetz. Ich will nicht das Hausrecht aushebeln, aber ich störe mich daran, dass durch das SBGG das Hausrecht über das Allgemeine Gleichstellungsgesetz gestellt wird.

Können Sie denn die Sorge von Frau Kraus nachvollziehen, dass sich durch das SBGG biologische Männer Zugang zu weiblichen Schutzräumen verschaffen können?

JS: Diese Sorge verstehe ich. Ich kann da nicht für alle Akteure sprechen und es gibt durchaus andere Vereine, die mir in diesem Punkt zu weit gehen. Wenn eine übergriffige Transperson aus einer Frauensauna oder aus einem Frauenhaus rausgeworfen wird, wäre ich die letzte Person, die dagegen etwas sagen würde, nicht weil sie eine Transperson ist, sondern weil sie übergriffig ist.

Wie soll man denn damit umgehen, wenn sich Personen missbräuchlich über die Änderung des Personenstandes Zugang zu bestimmten Räumen verschafft?

JS: Das klappte bislang doch auch. 

IK: Im Gegenteil, es gibt auch jetzt schon Missbrauch. Zum Beispiel über den sogenannten Ergänzungsausweis der dgti. Da gab es schon mindestens einen Fall, wo ein klar als Mann erkennbarer Mann sich Zugang zu einem Frauenbad verschaffen wollte. Und jetzt durch das SBGG wird es noch einfacherer. Dadurch werden Schutzräume für Frauen ausgehebelt.

JS: Ja, es gab diesen einen Fall in Wien, bei dem Bijan Tavassoli sich mit einem unter Vorspiegelung falscher Tatsachen rechtsmissbräuchlich erschlichenen dgti-Ergänzungsausweis missbräuchlich Einlass in eine Frauensauna verschaffte. Der Ergänzungsausweis hätte in diesem Fall nie ausgestellt werden dürfen. Nach dem Fall haben wir unsere internen Abläufe verschärft, damit so etwas nicht wieder passiert.

IK: Ich wurde übrigens auch von Transsexuellen kontaktiert, die ihre Transition noch nach dem alten TSG vollzogen haben und gegen das SBGG sind, weil sie sagen: Jetzt kann jeder behaupten, dass er transsexuell sei. Dadurch sinkt die Akzeptanz von Transsexuellen in der Bevölkerung. Das SBGG ist für die, die die Transition nach dem früheren TSG vollzogen haben, eine Katastrophe, denn sie erleben nun die Diskriminierung, die eigentlich denen gilt, die Ergänzungsausweise oder das SBGG missbrauchen.

"Jetzt kann jeder behaupten, dass er transsexuell sei.
Dadurch sinkt die Akzeptanz von Transsexuellen in der Bevölkerung"

JS: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es im Grundgesetz. Ein Teil dieser persönlichen Würde ist auch die Akzeptanz der geäußerten Geschlechtszugehörigkeit. Dort, wo es objektive Kriterien gibt, die daran zweifeln lassen, dass es der Person mit der Transition ernst ist, da bin ich ganz bei Ihnen: Dort ist die Verwendung eines Ergänzungsausweises möglicherweise rechtsmissbräuchlich. Das ist aber ohnehin unerheblich, da eine Entscheidung des BVerfG aus 1996 die unbedingte Akzeptanz durch staatliche Stellen und somit auch indirekt Dritter einfordert.

IK: Ich höre da heraus, dass es verfassungswidrig sei, einen Menschen über sein biologisches Geschlecht zu identifizieren. Ich sehe das nicht so. Wir dürfen uns nicht komplett von der Wissenschaft trennen und die sagt: Es gibt nur zwei Geschlechter. Wenn sich jetzt einige wenige mit dem einen Geschlecht identifizieren, obwohl sie körperlich dem anderen Geschlecht zugehörig sind, dann sind das Ausnahmen. Und auch die werden ihr Geschlecht nie wirklich ändern können, denn das geht einfach nicht. In der Psychotherapie wird das seit 100 Jahren diskutiert und die neuesten Erkenntnisse weisen darauf hin, dass es oft nicht der richtige Weg ist, das zu versuchen. Viele, die den Weg der Hormone und geschlechtsangleichenden Operationen gegangen sind, stellen fest, dass sich ihr Wohlbefinden dadurch nicht verbessert, wie man es ihnen versprochen hatte. Man sollte daher die Psychotherapie mehr als Lösung in Betracht ziehen.

JS: Ja, man kann das Geschlecht nicht ändern, da stimme ich Ihnen zu. Aber: Das BVerfG geht seit seinem Urteil von 1978 von einem einheitlichen Begriff der Geschlechtszugehörigkeit aus, die sich eben nicht allein anhand von Körpermerkmalen festmacht. Der Geschlechtseintrag wird deshalb nicht geändert, sondern dahingehend berichtigt, dass er dem nicht zu ändernden Geschlecht entspricht. Und nur darum geht es im SBGG, nicht aber um medizinische Eingriffe. 

IK: Dass das SBGG nicht in den medizinischen Bereich eingreift, wiederholen auch Politiker immer wieder. Dazu muss man aber wissen, dass laut Studien 90 Prozent der Jugendlichen, die man in ihrer Transgeschlechtlichkeit bestärkt, auch den Weg der medizinischen Maßnahmen beschreiten, bis hin zur operativen Geschlechtsangleichung. Umgekehrt wurde auch festgestellt, dass 80 Prozent der betroffenen Jugendlichen sich im Erwachsenenalter mit ihrem Geburtsgeschlecht aussöhnen, wenn man keine medizinischen Maßnahmen vornimmt. Ja, das SBGG bezieht sich nicht auf medizinische Maßnahmen, aber es öffnet Tür und Tor zu medizinischen und chirurgischen Interventionen. Das SBGG ist deswegen völlig fahrlässig. Ich fürchte, dass es viele junge Menschen auf diesen Weg bringen wird, der in gefährlichen, unwiderruflichen medizinischen Interventionen endet.

JS: Ich äußere mich ungern zum medizinischen Bereich, denn das ist nicht meine Expertise. Aber chirurgische Anwendungen an noch nicht ausgewachsenen Körpern sehe auch ich grundsätzlich immer sehr kritisch. Operative Eingriffe sind in Deutschland aber bislang Einzelfallentscheidungen mit vorheriger medizinischer Indikation. Und was Pubertätsblocker angeht: Bei Minderjährigen braucht es zwei Indikationen, bevor diese verabreicht werden – jedenfalls, wenn sich die Behandelnden an die Richtlinien halten.

"Chirurgische Anwendungen an noch nicht
ausgewachsenen Körpern sehe auch ich
grundsätzlich immer sehr kritisch"

Sollte man denn dann das SBGG nicht auf Erwachsene beschränken? Das würde doch die Möglichkeit reduzieren, dass sich Menschen verfrüht auf einen Weg begeben, von dem sie möglicherweise nicht wieder zurückkönnen. 

JS: Altersgrenzen sind nicht zulässig, hat das BVerfG schon Anfang der 80er Jahre beim TSG entschieden. Das BVerfG operiert mit der Erkenntnisfähigkeit des Kindes: Je mehr das Kind erkenntnis- und demzufolge geschäftsfähig wird, desto mehr wächst auch sein Entscheidungsspielraum. Und man darf auch nicht vergessen, dass in manchen Fällen Pubertätsblocker sinnvoll sind, wenn vorher eine psychotherapeutische Begutachtung stattgefunden hat, was auch die Behandlungsrichtlinien vorsehen. Leider gibt es auch Scharlatane, die Pubertätsblocker und Hormone einfach so verteilen. Deswegen darf man den regulären Weg nicht verbauen, denn sonst besorgen sich die Leute diese Dinge regelwidrig und das ist nicht gut. In meinen Transberatungen sage ich den Leuten auch immer wieder: Geht zum Therapeuten und haltet euch an das System. 

Info: Faktencheck

Das Bundesverfassungsgericht

Mit seiner Grundsatzentscheidung vom 11. Oktober 1978 geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass sich Geschlecht eines Menschen nicht allein durch die „äußeren Geschlechtsmerkmale zum Zeitpunkt seiner Geburt“ definieren lässt und erkennt ein Recht auf das Finden und Anerkennung der eigenen geschlechtlichen Identität. Der Beschwerdeführer hatte gegen einen Beschluss des Bundesgerichtshofs geklagt, der eine Änderung des Geschlechtseintrags des Beschwerdeführers im Geburtenregister von „männlich“ nach „weiblich“ abgelehnt hatte.

Das Konversionsschutzgesetz

Das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen von 2020 bezieht sich auf „Behandlungen, die auf die Veränderung oder Unterdrückung der sexuellen Orientierung oder der selbstempfundenen geschlechtlichen Identität gerichtet sind“. Sogenannte Konversionsbehandlungen sind bei Minderjährigen und – in bestimmten Fällen – bei Erwachsenen verboten. 

Der Ergänzungsausweis

Der Ergänzungsausweis wird durch die Deutsche Gesellschaft für Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit e.V. (dgti) herausgegeben. Er kann in Kombination mit einem Personalausweis von Personen verwendet werden, die (noch) keine Änderung ihres Geschlechtseintrags vorgenommen haben und deren äußeres Erscheinungsbild nicht mit dem im Personalausweis angegebenen Geschlecht und Vornamen übereinstimmt.

Der Deutsche Ärztetag

In seiner Resolution vom 11. Mai 2024 fordert der Deutsche Ärztetag (Hauptversammlung der Bundesärztekammer) eine Änderung des Selbstbestimmungsgesetzes: Minderjährige sollen nur nach psychiatrischer Diagnostik ihren Geschlechtseintrag ändern lassen können. Außerdem fordert der Ärztetag strenge Grenzen für die Behandlung von unter 18-jährigen mit Pubertätsblockern, geschlechtsumwandelnden Hormontherapien oder Operationen.

Abkürzungen

SBGG = Selbstbestimmungsgesetz
BVerfG = Bundesverfassungsgericht
TSG = Transsexuellengesetz

Stichwort Psychotherapie: Sie, Frau Steenken sagen, das Konversionsschutzgesetz tangiere die Arbeit von Frau Krauss als Psychotherapeutin nicht. Frau Krauss hingegen sagt, das Gesetz hindert letztendlich Psychotherapeuten an ihrer Arbeit.

JS: Das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen beruht auf der Feststellung, dass man ein Geschlecht nicht ändern kann. Ich habe es damals bei meinem Therapeuten wertgeschätzt, dass er mich reflektiert und hinterfragt hat. Wenn also Frau Kraus im Rahmen einer Psychotherapie klären will, ob sich die Person irrt, dann ist das völlig legitim. Eine Konversionsbehandlung liegt erst dann vor, wenn gegen den Willen der Person gehandelt wird.

IK: Das stimmt so nicht. Wir Psychotherapeuten werden zu einer trans-affirmativen Behandlungsweise gedrängt. Wenn jemand zu uns kommt und sagt, er oder sie gehöre dem anderen Geschlecht an, dann sollen wir als Psychotherapeuten das gerade nicht in Frage stellen, sondern die gefühlte Geschlechtszugehörigkeit affirmativ unterstützen. Das steht auch so in der neuen Sk2-Behandlungsleitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter, die ich verurteile. Vor Kurzem hat übrigens auch der Deutsche Ärztetag eine Überarbeitung dieser Leitlinie gefordert: Keine affirmative Therapie bei Kindern und Jugendlichen, keine Pubertätsblocker und keine Änderung des Geschlechtseintrags vor der Volljährigkeit. Sie verlangen also genau das, wofür ich von manchen Transaktivisten gebasht werde. 

"Wir Psychotherapeuten werden zu einer
trans-affirmativen Behandlungsweise gedrängt"

Wie erklären Sie sich, dass sich auch in Deutschland die Zahlen von Kindern, die sich in einer Transidentität fühlen, in den letzten Jahren um ein Vielfaches erhöht haben und dass es sich dabei besonders um Mädchen handelt?

JS: Ja, es gibt einen Anstieg der Zahlen, aber hier wird Ursache mit Wirkung verwechselt. Heute sind die Informationen viel leichter zugänglich und umgekehrt hat ein Outing auch nicht mehr die gleichen gravierenden Folgen wie früher und nur ein kleiner Teil wird später medizinisch unterstützt. Mit jeder Liberalisierung des TSG hat es einen kurzzeitigen Anstieg der Zahlen gegeben. Das wird auch jetzt so sein. Aber eine Explosion der Fälle gibt es langfristig gesehen nicht.

IK: Durch das SBGG wird das Geschlecht grundsätzlich abgeschafft und durch ein Gefühl ersetzt. Da behaupten dann mittlerweile auch Politiker Absurditäten wie: eine Frau könne einen Penis haben. Dahinter steckt, dass ständig Gender mit Geschlecht verwechselt wird. Gender bedeutet, dass man unabhängig von seinem biologischen Geschlecht vielfältige Geschlechterrollen einnehmen darf. Genau da wollen wir Feministinnen hin. Die Transideologie, auf der das SBGG beruht, zementiert hingegen die Geschlechterrollen, indem sie Mädchen, die nicht dem Klischee entsprechen wollen, suggeriert, es könne auch ein Mann sein. Das ist weder emanzipatorischer Fortschritt noch Modernisierung der Gesellschaft. Und das erklärt auch, warum es eine solche Zunahme von jungen Frauen gibt, die sich trans fühlen. In England gab es innerhalb weniger Jahre eine Zunahme um 4000 Prozent! Warum? Weil sie sich nicht mit weiblichen Stereotypen identifizieren! Aber deswegen sind sie doch keine Männer. Man nimmt ihnen durch den gebotenen Ausweg der Transidentität die Möglichkeit, sich gegen Stereotype zu wehren und schickt sie stattdessen auf den Weg gefährlicher Operationen. 

Die Psychotherapeutin und linke Feministin Ingeborg Kraus
Foto: Matej Grgic | Die Psychotherapeutin und linke Feministin Ingeborg Kraus.

Manche wollen dann später auch wieder zurück in ihr Ursprungsgeschlecht.

IK: Ich hatte schon vor zehn Jahren einen Fall in meiner Praxis. Die Brüste waren weg, die Stimme dauerhaft verändert. Sie hat sich übrigens dann weder als Frau, noch als Mann bezeichnet. Ich hatte auch einen anderen Fall eines Transmanns nach der vollständigen operativen Geschlechtsumwandlung. Er sagte zwar, die Operation nicht bereut zu haben, obwohl er durch die Penoid-OP inkontinent geworden war und dauerhaft Schmerzen hatte. So geht es vielen, die gehofft hatten, durch eine Transition würde es ihnen endlich besser gehen. Aber dann stellen sie fest: Es geht mir immer noch schlecht oder sogar schlechter.

JS: Ja, Detransitionierer sind ein Problem. Zum Glück sind sie relativ selten. 

"Detransitionierer sind ein Problem.
Zum Glück sind sie relativ selten"

IK: Da muss ich widersprechen, sie sind mittlerweile sehr häufig und trauen sich mehr und mehr, darüber zu sprechen, gerade im Netz. Da gibt es mittlerweile viele Zeugnisse. Wir müssen aufpassen, wem wir als Gesellschaft zuhören. Den Beschluss des Deutschen Ärztetags hat die dgti gleich als transfeindlich eingeordnet. Und warum? Weil Experten Kinder schützen und vor körperschädigenden Auswirkungen bewahren wollen!

JS: Frau Kraus, ich kenne die Zahlen, Detransitionierer sind selten. Sie sind ein Aufruf dazu, sich an die medizinischen Richtlinien zu halten und sehr vorsichtig zu sein, was medizinische Eingriffe anbelangt. Die Antragsteller beim Deutschen Ärztetag waren außerdem nicht sachkundig.

Die Feministin Simone de Beauvoir hat gesagt "Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau." Was hat sie damit gemeint, Frau Kraus?

IK: Dieser Satz wird jetzt von Trans-Aktivisten gerne missdeutet in die Richtung, dass das Geschlecht nicht von Geburt an definiert sei und man es sich später selbst aussuchen kann. Stattdessen hat Simone de Beauvoir aber etwas anderes gemeint, nämlich: Biologische Frauen werden durch ihre Sozialisation und die Gesellschaft in eine bestimmte Rolle des Frauseins hineingedrängt. Leider haben wir es nicht geschafft, Rollenstereotype aufzulösen. Im Gegenteil, neue, sehr abwertende Frauenbilder sind hinzugekommen, zum Beispiel durch Prostitution und Pornografie. Ein Mädchen von vier erfährt heute sexuelle Gewalt. Zwischen 60 und 70 Prozent der Frauen erleben sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Kein Wunder, wenn manch ein junges Mädchen sich da fragt: „Will ich das?“ 

Frau Steenken, was ist eine Frau?

JS: Eine Frau ist eine Person mit dem Geschlechtseintrag „weiblich“, beziehungsweise eine Person, die weiß, dass sie weiblich ist. Ich weiß, das kann man missverstehen und ich kann die Frage letztendlich umfassend nicht beantworten. Man kann sagen, eine Frau ist eine Person, der man aufgrund körperlicher Merkmale bei der Geburt die Geschlechtszugehörigkeit „weiblich“ zuerkannt oder zugewiesen hat. Aber von dieser Grundregel gibt es eben auch Ausnahmen. Ich weiß von einem Verantwortlichen des European Olympic Committee, der sich gerade mit der Frage beschäftigt, woran man im Sport Geschlechtszugehörigkeit letztendlich festmachen kann. Er hat verkürzt gesagt: „Je mehr ich mich damit beschäftige, umso schwieriger wird diese Frage.“

Julia Steenken, Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Trans* und Inter*geschlechtlichkeit e.V. (dgti)
Foto: privat | Julia Steenken (Jahrgang 1975) ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Trans* und Inter*geschlechtlichkeit e.V. (dgti) und dort seit 2016 im Bereich politische und rechtliche Grundsatzfragen tätig.

Mit dem SBGG kann sich jetzt eine Person mit Penis und Bart den Geschlechtseintrag „weiblich“ zulegen. Wird sie dadurch zur Frau?

JS: Eine Person mit Bart und natürlichem männlichen Genital, die von sich behaupten würde, sie wäre eine Frau, da würde ich sagen: Das habe ich zu respektieren, aber ich habe meine Zweifel und erlaube mir, dass ich dir persönlich das nicht glaube.

IK: Es bleibt aber doch Fakt, dass durch das SBGG die ganze Gesellschaft gezwungen wird, etwas zu akzeptieren, was der eigenen Wahrnehmung nicht entspricht. Dagegen wehren sich mittlerweile auch viele Transsexuelle, die sehr genau wissen, dass sie Männer sind, aber sich eben als Frau empfinden. Das dürfen sie ja auch gerne tun. Und dann gibt es auch die, die sagen: „Transfrauen sind Frauen“. Das ist falsch. Transfrauen sind Transfrauen. Man darf nicht eine ganze Gesellschaft dazu zwingen, Lügen als Wahrheit anzunehmen. Stattdessen wäre es ein Fortschritt, wenn man die Akzeptanz von Transfrauen in der Gesellschaft stärkt. 

"Transfrauen sind Transfrauen.
Man darf nicht eine ganze Gesellschaft dazu zwingen,
Lügen als Wahrheit anzunehmen"

Noch ein Abschlusswort?

JS: Ich bereue den Schritt, den ich 2015 / 2016 unternommen habe, nicht. Ich habe es mir reichlich überlegt und mein Glück gefunden. Ich wünsche aber keinem Menschen, dieses Leben führen zu müssen. Denn das Leben von Frauen mit Transhintergrund ist nicht kuschelig. Mit weiblichen Rollenstereotypen und Benachteiligungen werde ich auch konfrontiert. Auf der einen Seite werden Ansprüche an mich gestellt, wie ich als Frau zu sein habe. Aber wenn ich dem nicht entspreche, weil ich die Geschlechterstereotype furchtbar finde, dann wird mir wieder mein weibliches Geschlecht aberkannt. Zu sagen, Transfrauen seien keine Frauen, ist ausgrenzend.

IK: Das SBGG und überhaupt die Transideologie richtet sich im Endeffekt meines Erachtens auch gegen Homosexuelle. Ich denke da an die Schauspielerin Ellen Page, die heute als Elliot Page lebt. Ich kann mich noch erinnern, wie sie sich zunächst als lesbisch geoutet hat, zitternd und zagend. Und ich dachte bei mir: „Das ist doch in Ordnung, heute lesbisch zu sein. Warum fällt ihr das so schwer, sich zu outen?“ Ich selbst bin lesbisch. Trans zu werden scheint für manche Homosexuelle ein Ausweg zu sein, die noch kein Selbstbewusstsein entwickelt haben, eine gleichgeschlechtliche Beziehung zu führen. Damit ist eine Änderung des Geschlechts eine Lösung, um wieder eine Heteronormativität herzustellen. Aber das ist eben kein gesellschaftlicher Fortschritt.



Zur Person:

Julia Steenken (Jahrgang 1975) ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Trans* und Inter*geschlechtlichkeit e.V. (dgti) und dort seit 2016 im Bereich politische und rechtliche Grundsatzfragen tätig. In diesem Rahmen war Steenken an den Stellungnahmen der dgti zum Gesetzgebungsverfahren des Gesetzes zum Schutz vor Konversionsbehandlungen und des SBGG beteiligt. Die dgti finanziert sich aus öffentlichen Fördermitteln und Spenden.


Ingeborg Kraus (Jahrgang 1968) ist promovierte Diplompsychologin in eigener Praxis. Sie arbeitet schwerpunktmäßig mit Trauma-Patienten, unter anderem Frauen, die Opfer von Prostitution und Menschenhandel waren. Sie publiziert regelmäßig in Fachzeitschriften zum Zusammenhang von Trauma und Prostitution, setzt sich für die Bestrafung von Sexkauf ein und hält weltweit Vorträge zu diesem Thema. Kraus ist Mitglied in der Partei der Grünen.

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Themen & Autoren
Franziska Harter Alice Schwarzer Deutscher Bundestag Gleichstellungsgesetze und Gleichstellungsbestimmungen Simone de Beauvoir Transsexuelle

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