Wenn Ulrich Kahle über das Bibelzentrum in Barth spricht, dann leuchten seine Augen. Der Religionspädagoge führt mit leidenschaftlicher Ruhe durch den Bibel-Garten und die alten Mauern, als erzählte er von einem lebendigen Wesen – und tatsächlich: Wer sich einlässt, begegnet hier einer über Jahrhunderte gewachsenen Geschichte, deren Bedeutung weit über die Grenzen der kleinen pommerschen Stadt hinausreicht.
Das älteste Gebäude des Bibelzentrums geht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Es ist die St. Georgs-Kapelle, ein Chorraum eines Kirchenschiffs und einst Bestandteil des St.-Jürgen-Hospitals – ein Leprosenhaus vor den Toren der Stadt. Die ältesten erhaltenen Mauern datieren um 1390. Innen sind die Reste farbiger Wandmalereien mit dem heiligen Christophorus und dem Jesuskind sowie Sankt Antonius zu sehen. Sie sollen um 1450 entstanden sein. Im 18. Jahrhundert wurde der Gebäudekomplex zum Armenhaus umgebaut. Erst seit 2001 ist das Ensemble in kirchlicher Trägerschaft der Nordkirche – als Bibelzentrum mit musealem, pädagogischem und spirituellem Anspruch.
Die Barther Bibel: Ein Druckerwunder
Das Herzstück der Sammlung ist die sogenannte „Barther Bibel“, die zwischen 1584 und 1588 als älteste Bibel in Pommern entstand. Die plattdeutsche Bibelübersetzung wurde direkt am Barther Schloss gedruckt im Auftrag von Herzog Bogislaw XIII. (1544 -1606). Der Fürst ließ nicht nur drucken, sondern auch binden und kolorieren – alles unter einem Dach. Ein Novum für das 16. Jahrhundert. Nur 700 Exemplare wurden hergestellt. Heute sind weltweit noch etwa 60 bis 80 erhalten. Eine der Bibeln ist hier in Barth als Leihgabe der St. Marienkirche zu bestaunen.
„Es war damals ein wahres Prestigeprojekt“, erklärt Kahle. Die Bilder der Bibel wurden per Hand koloriert – oft parallel und in Serienfertigung, Blatt für Blatt. „Der Einsatz von Bleiklischees anstelle klassischer Holzschnitte macht diese Ausgabe auch technisch zu einer Pionierleistung, die spätere Bibeldrucke in Lüneburg und Hamburg beeinflusste“, betont Herr Kahle. „Wir missionieren nicht“, betont Kahle. „Wir erzählen.“ Und das gelingt in Barth auf eindrückliche Weise.
Dass Bibel und Bildung zusammengehören, war Martin Luther ein zentrales Anliegen. Das zeigt sich auch in Barth. „Ohne Lesefähigkeit hätte Luthers Übersetzung keinen Sinn gemacht“, sagt Kahle. Deshalb geht es im Bibelzentrum nicht nur um historische Bibeln, sondern auch um pädagogische Arbeit. Schulklassen, Soldatengruppen oder Einzelbesucher erleben die Bibel hier „handgreiflich“: Sie dürfen schreiben wie ein Mönch, drucken wie Gutenberg oder Thesen nageln wie Luther.
Ein ganz besonderer Teil des Barther Bibelzentrums liegt unter freiem Himmel: der Bibelgarten. Angelehnt an mittelalterliche Klosteranlagen gliedert sich die Fläche in vier Beete – symbolisch für die vier Flüsse des Paradieses. In der Mitte steht, ganz wie im Garten Eden, ein Baum des Lebens. Hier wachsen Pflanzen, die mit der Bibel verbunden sind: Getreide, Feigen, Lilien, Sonnenblumen. Kahle erklärt: „Die Sonnenblume wird in der Lausitz auch ‚Gottesauge‘ genannt, weil sie dem Sonnenlauf folgt – so wie Gott den Menschen durch das Leben begleitet.“ Gartenfreunde entdecken hier den „Stern von Bethlehem“, neben der „Josephsblume“, der „Himmelsleiter“, dem „Gottesauge“, der „Pfingstnelke“, dem „Kreuzblütler“ oder einer Blume mit dem Namen „Heilige Elisabeth“. Zudem sind über 30 Pflanzen aus Klostergärten zu bestaunen und man erfährt viel über ihre heilenden Wirkungen. Auch symbolträchtige Pflanzen wie der Akanthus finden sich hier – in Kirchen häufig als Ornament verwendet, weil er als immergrün für Ewigkeit steht. Selbst die Prägung der Barther Bibel trägt Akanthusmotive – eine sinnbildliche Verbindung von Schrift und Natur.
Rosen für Maria
Eine Erweiterung des Gartens widmet sich der Rose – „der Marienpflanze schlechthin“, so Kahle. Die frühere Gärtnerin sichtete hunderte Sorten mit biblischen oder kirchlichen Bezügen, 35 fanden ihren Weg nach Barth: Darunter Rosen mit Namen wie „Katharina von Bora“, „Luther“, „Gloria Dei“ oder „Schwarze Madonna“. Jede Blüte erzählt eine eigene Geschichte.
Neben der historischen Dauerausstellung bietet das Bibelzentrum interaktive Räume: Kinder schreiben mit Federkiel, stempeln Psalmen oder drucken Vaterunser-Seiten auf nachgebauten Druckerpressen im alten Layout. Im Raum „Plus Minus 10“ im Obergeschoss geht es um die Zehn Gebote – modern interpretiert als ethisches Fundament zum Schutz der Schwachen. Diskussionsimpulse, etwa für Schulklassen oder Soldatengruppen, machen daraus mehr als trockene Tafeln. Die Ausstellung zeigt auch, wie teuer Bibeln einst waren: Während ein gutes Handwerkergehalt im 16. Jahrhundert kaum für ein Exemplar reichte, revolutionierten die Halleschen Canstein-Bibeln im 18. Jahrhundert den Markt – ab zehn Groschen konnte sich nun jeder Gläubige eine Bibel leisten.
Ein Schatz für die Zukunft
Das Bibelzentrum Barth zählt rund 8.000 bis 9.000 Besucher im Jahr – Tendenz nach Corona wieder steigend. Die Sammlung wird stetig erweitert. Immer wieder bringen Menschen alte Bibeln vorbei. Ein „Bibelaltersheim“, wie Kahle es augenzwinkernd nennt, bewahrt die Exemplare, die nicht im Schaukasten liegen. Und auch wenn nur rund zehn Prozent der Bevölkerung dieser nordöstlichen Region unweit des Boddens und der Ostsee noch kirchlich gebunden sind – das Bibelzentrum ist ökumenisch gut vernetzt. „Freikirchen, Katholiken und Protestanten nutzen das Haus gemeinsam“ – als „neutrales Terrain“ für Austausch und Projekte, wie der Reli-Lehrer Kahle klarstellt.
Ulrich Kahle sieht das Zentrum als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Buch und Mensch. „Die Bibel hat eine kulturelle und geistliche Tiefe, die wir hier erfahrbar machen“, sagt er. Wer nach Barth kommt, erlebt das eindrücklich.
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Bibelzentrum Barth, Sundische Straße 52, 18356 Barth
Öffnungszeiten: November–März: Di–Fr, 10–16 Uhr (Wochenende geschlossen)
Der Autor ist studierter Kunsthistoriker und schreibt zu kulturellen Themen mit dem Schwerpunkt neue Länder.
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